© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/12 06. April 2012

Das Opfer, das zu schnell gelaufen ist
Justiz: Zwei U-Bahnschläger, die den Tod eines jungen Berliners verursacht haben, finden einen verständnisvollen Richter
Ronald Berthold

Wenn junge Männer wie Ali T. und Baris B. unterwegs sind, wechseln inzwischen viele Berliner Passanten die Straßenseite. Denn die Gefahr, angepöbelt, zusammengeschlagen oder niedergestochen zu werden, ist alles andere als gering. In der Hauptstadt gehören solche Fälle mittlerweile zum Alltag.

Erst Mittwoch vergangener Woche stach ein Angehöriger dieser speziellen Jugendgruppe, deren Nationalität in den Medien meist verschwiegen wird, einem 25jährigen im Wedding mit einem Messer in den Oberarm. Begründung: Dieser habe ihn angeblich „schräg angeguckt“. Viele der Provokationen beginnen in der Tat mit dem Ausruf „Was guckst Du?!“ Danach reagieren sich die Täter nicht selten mit Tritten, Fausthieben und Messerstichen an ihren Opfern ab.

Der 21 Jahre alte Ali T. und sein zwei Jahre älterer Freund Baris B. können bei diesem üblen Spiel seit vergangener Woche nun erneut mitmischen. Seitdem sind sie wieder freie Leute, obwohl ein Gericht Alis Verantwortung für den Tod des 23 Jahre alten Giuseppe M. bejahte und Baris wegen Körperverletzung verurteilte. Beide erhielten jedoch Bewährungsstrafen und kamen sofort nach dem Urteil frei.

Im September vergangenen Jahres hatten sie auf dem U-Bahnhof Kaiserdamm Giuseppe, der bald freiwillig zur Bundeswehr gehen wollte, aggressiv nach Zigaretten gefragt und dann eine Prügelei begonnen. Giuseppe flüchtete, doch Ali verfolgte ihn unerbittlich bis auf die Fahrbahn des achtspurigen Kaiserdamms. Dort wurde Giuseppe, den Atem seines Verfolgers spürend, von einem Auto totgefahren. Der Fall hatte in Berlin große Betroffenheit ausgelöst – weil er der tragische Höhepunkt einer ganzen Kette solcher „U-Bahn-Schlägereien“ war. Zwei Tage nach Giuseppes Tod demonstrierten rund 1.000 Berliner an der Unfallstelle, die noch Monate später mit Blumen geschmückt war.

Eine Hetzjagd, die die Öffentlichkeit und der Staatsanwalt in dieser Aktion sahen, verneinte Richter Ralph Ehestädt mit den manchem Prozeßbeobachter zynisch anmutenden Worten: „Wenn er etwas langsamer gelaufen wäre oder diagonal, wäre es nicht passiert.“ Er sah in Giuseppes Flucht vielmehr eine „Kurzschlußreaktion“. Todesangst des Opfers, wie sie der Anklagevertreter annahm, habe nicht festgestellt werden können, urteilte der Vorsitzende lapidar. Man möchte fragen: Wie auch? Der Tote kann über seine Gefühle ja nicht mehr reden. Und offenbar wirkt es – so kann das Urteil interpretiert werden – entlastend für einen Schläger, wenn sein Opfer so schnell flüchtet, wie es kann. Folglich sah Ehestädt hier nur einen minderschweren Fall von Körperverletzung mit Todesfolge und verhängte zwei Jahre auf Bewährung. Kumpel Baris kam gar mit vier Monaten davon.

Ali T. Und Baris B. sind bei der Polizei keine unbeschriebenen Blätter. Die arbeitslosen Männer sind bereits wegen Raubdelikten und Körperverletzung bekannt. Den Richter beeindruckte dies nicht: Es dürfe keine unangemessene Strafe verhängt werden, nur um abzuschrecken, sagte er. Das Sicherheitsgefühl der Berliner erhöhen solche Urteile nicht – zumal beinahe täglich von Überfällen auf U-Bahnhöfen berichtet wird. Der spektakulärste war zwei Tage vor Weihnachten abgeurteilt worden. Mit den Worten „Scheiß Deutsche!“ und „Scheiß Nazis!“ hatten sich vier Jugendliche mit Migrationshintergrund auf zwei Malergesellen gestürzt. Einen davon traten sie auf dem U-Bahnhof Lichtenberg ins Koma. Hier sah das Gericht allerdings einen „menschenverachtenden Vernichtungswillen“ und sprach Jugendstrafen zwischen vier und sechs Jahren aus.

Öffentliche Empörung über die Taten oder zu milde Urteile bleibt jedoch meist verhalten. Politiker und Lobbyvertreter halten sich mit Bewertungen zurück. Daß es auch anders geht, zeigten sie nach der sogenannten „Hetzjagd von Guben“ 1999. Der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) kritisierte das Gericht noch während des Prozesses wegen der angeblich zu langen Verfahrensdauer. Daß der Haupttäter nur eine dreijährige Gefängnisstrafe erhielt, bezeichnete der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, als „Skandal“. Und der seinerzeitige Vizepräsident des Zentralrats, Michel Friedman, nannte das Urteil „nicht nachvollziehbar“.

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