© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/12 06. April 2012

… und sogleich floß Blut
Die Waffe Christi: Über den Ursprung und Bedeutungswandel der Heiligen Lanze
Karlheinz Weissmann

Einer der Soldaten stieß mit der Lanze in seine Seite, und sogleich floß Blut und Wasser heraus“ (Joh. 19.34). Die Szene, obwohl immer wieder dargestellt auf Kreuzigungsbildern, die das Karfreitagsereignis vergegenwärtigen, gehört doch nicht zum Gemeingut der Evangelisten, sondern zu den besonderen Überlieferungen, die sich nur bei Johannes finden.

Johannes verknüpfte sie mit dem Vorgehen der römischen Legionäre, die den neben Christus hingerichteten die Oberschenkel brachen, um sie am Kreuz zusammensacken zu lassen, damit ihr Tod schneller eintreten sollte. Christus war aber schon verstorben, weshalb er verschont blieb. Das hat bei Johannes zwar auch einen verborgenen theologischen Sinn – das Opferlamm darf nach dem Gesetz keine gebrochenen Gliedmaßen haben (Joh. 19.36) –, aber die Figur des Mannes mit der Lanze ist im Grunde bedeutungs- und deshalb auch namenlos.

Tatsächlich wird der Soldat erst seit dem 3. Jahrhundert als Longinus bezeichnet und mit der Person des römischen Hauptmanns verknüpft, der den toten Christus als Gottessohn bekannte, von dem sich aber bei Johannes gar nichts findet, nur in den Passionsberichten des Markus und Matthäus. Noch deutlich später, in einer päpstlichen Bulle vom Anfang des 13. Jahrhunderts, wird die zu den römisch-deutschen Insignien gehörende Lanze als „Lanze des Longinus“ bezeichnet, ein Jahrhundert später war diese Auffassung allgemein durchgesetzt.

Als „Heilige Lanze“ galt die Lanze im Kronschatz aber längst, war schon mit dem Reichspatron Mauritius verbunden, vor allem aber als Reliquie verstanden worden, denn in das etwa einen halben Meter lange Speerblatt aus karolingischer Zeit hatte man einen Nagel, nach der Legende einen Nagel vom Kreuz Christi, eingelassen. Tatsächlich handelt es sich um einen Dorn, der möglicherweise Partikel von angeblichen oder wirklichen Kreuznägeln enthielt; beim Ausstemmen der Öffnung im Speerblatt ist deren Metall wohl zum ersten Mal zerbrochen und deshalb mit mehreren metallenen Manschetten, von denen nur die äußere, goldene, sichtbar ist, wieder zusammengefügt worden.

Ursprünglich war diese Lanze das wichtigste Herrschaftszeichen des Langobardenreiches. Um seinen Anspruch auf das italienische Territorium zu legitimieren, erwarb sie Heinrich I. im Jahr 926. Nach dem Tod Ottos III. brachte sich Heinrich von Bayern gewaltsam in ihren Besitz und konnte damit seinen Anspruch auf den umstrittenen Thron legitimieren.

Als Heinrich II. ließ er eine Darstellung für ein Sakramentar anfertigen, die zeigte, wie er von Christus die Krone und von Engeln Schwert und Lanze erhielt. Nach Meinung mancher Historiker waren Lanze und Krone bis zu diesem Zeitpunkt gleichrangige Herrschaftszeichen. Neben ihrer Funktion als Insignie war die Heilige Lanze auch „persönliches Feldzeichen“ (Erich Gritzner) des Herrschers. Von Heinrich I. wie von Otto I. wird berichtet, daß sie sie mit in die Schlacht führten, und offenbar wurde sie noch an der Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert als Fahnenlanze verwendet.

Dieser Gebrauch war insofern nicht ungewöhnlich, als Lanzen in der germanischen Tradition seit jeher eine wichtige Rolle spielten. Man weiß von „Ahnenspeeren“ (Otto Höfler), die auf den göttlichen Stifter der Sippe, häufig den speertragenden Odin, zurückgeführt wurden, und über die Langobarden der Völkerwanderungszeit wird berichtet, daß ihre Könige durch das Überreichen einer solchen Waffe eingesetzt wurden.

Neben der germanischen Traditionslinie gab es außerdem eine zweite, die byzantinische: Allein dem basileus, dem Kaiser, wurde seit der Spätantike eine besondere Zeremoniallanze vorangetragen. Oft verband man sie mit dem Reichsapfel auf der Spitze sowie Querstab und Wimpel zur Standarte.

Sehr wahrscheinlich haben für die besondere Rolle der Heiligen Lanze unter den deutschen Insignien beide Überlieferungen, die germanische wie die byzantinische, eine Rolle gespielt. Allerdings sank ihre Bedeutung als Herrschaftszeichen seit dem Spätmittelalter, während die als Reliquie stieg. Im 14. Jahrhundert wurde sie durch Karl IV. sogar zum Gegenstand eines besonderen Kultes mit eigenem Festtag und eigener Liturgie. Nachdem sie Karls Sohn Sigismund samt den übrigen Insignien der Reichsstadt Nürnberg zur Aufbewahrung übergeben hatte, stand sie alljährlich im Zentrum einer großen religiösen Feier, die mit erheblichem Aufwand vierzehn Tage nach Ostern zelebriert wurde. Daß die Lanze ursprünglich eine beliebige Waffe aus karolingischer Zeit gewesen war, wußte da niemand mehr, jetzt galt sie als „Waffe Christi“.

Die Popularität ihrer Verehrung schwand erst mit dem Sieg der Reformation in Nürnberg, danach fiel sie dem Vergessen anheim und erlitt im Grunde dasselbe Schicksal wie die anderen „Heiligen Lanzen“ des Mittelalters, die man ebenfalls mit der Person des Longinus in Verbindung gebracht hatte, die aber niemals eine Bedeutung erlangten, die der im deutschen Kronschatz vergleichbar war.

Wahrscheinlich hätte sich, abgesehen von den Historikern, kaum noch jemand für die Heilige Lanze interessiert, wenn nicht der Engländer Trevor Ravenscroft zuerst 1974 ein reißerisches Buch mit dem Titel „Der Speer des Schicksals“ veröffentlicht hätte, in dem er behauptete, Hitler habe sich mit dem Anschluß Österreichs vor allem in den Besitz der Heiligen Lanze bringen wollen, da er in ihr eine Garantie seiner Unbesiegbarkeit gesehen habe. Aufgrund der Zählebigkeit dieser Art von nazi fiction kursieren bis heute entsprechende Vorstellungen, die der Heiligen Lanze eine besondere Aura verleihen.

Tatsächlich hat Hitler die Heilige Lanze wie alle anderen Insignien aus der Hofburg nach Nürnberg überführen lassen, aber der Grund dafür lag ganz prosaisch in seinem Haß auf Wien, den Ort seiner Enttäuschungen und Niederlagen, und dem Bedürfnis, die „Stadt der Reichsparteitage“ auszuzeichnen. Anders als Hitler interessierte sich der Reichsführer SS Himmler zwar besonders für die Zeit der sächsischen Herrscher und für alle möglichen Mysterien, aber er hatte niemals Zugriff auf die alten Krönungsabzeichen. Das sind nüchterne Wahrheiten, deren allgemeine Verbreitung deshalb kaum Aussicht auf Erfolg haben wird, angesichts eines Gegenstands, der schon so lange Gegenstand der Mystifizierung ist.

Foto: Fra Angelico, Kreuzigung mit Lanzenstich des Hauptmanns Longinus (Freskenzyklus im Dominikanerkloster San Marco in Florenz)

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