© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/12 06. April 2012

Erich von Däniken ist widerlegt
Geheimnisvolle Linien der Nazca-Kultur sind entschlüsselt: Grundwassermarkierungen statt Ufo-Landezone
Wolfgang Kaufmann

Im Jahre 1901 stieß der deutsche Archäologe Max Uhle im peruanischen Teil der Atacama-Wüste auf Grabstätten einer bis dahin unbekannten Kultur, welche bald darauf nach dem nahebei liegenden Ort Nazca benannt wurde. Später entdeckte man dann in Cahuachi auch noch eine beeindruckende Tempelanlage, offenkundig das Hauptheiligtum der Nazca-Leute. Ebenso wissen wir seit 1997 durch die akribische Sucharbeit des Bonner Archäologen Markus Reindel, wo sich die Siedlungszentren des Nazca-Reiches befunden hatten, nämlich in der vierzig Kilometer entfernten Palpa-Region, und zwar bei den heutigen Ortschaften Los Molinos und La Muña. Hier muß zwischen 100 und 400 n. Chr. eine hochentwickelte Gesellschaft existiert haben, wovon beispielsweise die imposanten Fürstengräber zeugen. Allerdings fanden die Ausgräber in den Ruinen der beiden reichen und elitären Städte keinerlei Kultbezirke oder Tempelanlagen, was extrem ungewöhnlich ist.

Etwas konsterniert durchsuchten Reindel und sein peruanischer Kollege Johny Isla daraufhin etwa einhundert unscheinbare Steinhügel im Umfeld der einstigen Ortschaften – und wurden tatsächlich fündig: Die Häufchen, vermutlich Reste kleiner Altäre, enthielten zahlreiche Opfergaben, darunter Spondylusmuscheln, welche im gesamten Andenraum als Symbol für Fruchtbarkeit und Wasser galten. Noch interessanter allerdings ist, daß diese Kultplätze genau an den Endpunkten der markanten Bodenzeichnungen liegen, welche 500 Quadratkilometer der extrem trockenen Küstenwüste in der Nazca-Palpa-Region bedecken und als „Linien von Nazca“ mittlerweile weltweite Berühmtheit genießen.

Schließlich wurde seit ihrer Entdeckung im Jahre 1924 unablässig darüber spekuliert, welchem Zweck die rund 1.700 Geoglyphen, deren größte immerhin an die zwanzig Kilometer mißt, gedient haben mögen. Dabei verstiegen sich einige „Experten“ sogar dazu, von Sportarenen oder Startplätzen für Heißluftballons zu phantasieren; nicht zu vergessen natürlich auch Erich von Dänikens „Landeplätze für Außerirdische“. Deutlich realistischer wirkt da die Annahme der ehemaligen Dresdner Mathematiklehrerin Maria Reiche, deren unermüdlichen Anstrengungen es übrigens auch zu verdanken ist, daß die Nazca-Zeichen 1994 zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt wurden: sie sah in den Scharrbildern Elemente eines gigantischen prähistorischen Kalenders.

Mittlerweile freilich ergab sich eine ganz andere Lösung des Rätsels. Wie Reindel, der bezeichnenderweise nicht von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, sondern von der Schweizerisch-Liechtensteinischen Stiftung für Archäologische Forschung im Ausland unterstützt wurde, im Laufe weiterer Grabungen herausfand, waren die Nazca-Leute ebensowenig die ersten Bewohner der Region gewesen wie die Angehörigen der Paracas-Kultur, welche bereits um 800 v. Chr. hier siedelten. Vielmehr muß der Paracas-Epoche eine sogenannte „Initialzeit“ vorausgegangen sein, deren Beginn etwa tausend Jahre früher anzusetzen ist. Doch damit nicht genug: Bei Pernil Alto entdeckten die Archäologen schließlich sogar noch die Reste einer vollkommen archaischen Kultur, die schon seit mindestens 3800 v. Chr. existierte (JF 9/12). Und deren Vertreter hatten offensichtlich als erste den Brauch entwickelt, sich in der Landschaft zu verewigen, indem sie mannshohe mythische Figuren wie das bizarre „Augenwesen“ in die Felswände ritzten. Dies geschah kurz vor Anbruch der „Initialzeit“, als die bis dahin grüne Pampa rund um Nazca infolge des immer öfter ausbleibenden Regens zu verdorren begann.

In der Paracas-Zeit wiederum, also um 700 v. Chr., gingen die Menschen dann dazu über, dem Ganzen einen deutlich monumentaleren Anstrich zu geben: Nun wurden zehn bis dreißig Meter hohe Bodenzeichnungen an den Hängen von Flußtälern angelegt. Zugleich stabilisierte sich die Umweltsituation offenbar wieder, bis 500 Jahre später der zweite Austrocknungsschub folgte. Daraufhin begannen nun auch die Priester der neuentstandenen Nazca-Kultur, Scharrbilder zu schaffen. Allerdings legten sie diese jetzt auf den ebenen Hochflächen an. Und die Nazca hinterließen vorrangig geometrische Formen – die immer wieder als typisch hingestellten Tierfiguren machen nur einen geringen Prozentsatz der Geoglyphen aus.

Sinn dieses Unterfangens war es zweifellos, die unterirdischen Wasserläufe zu markieren, welche in den geologischen Bruchzonen der zunehmend arider werdenden Landschaft zirkulierten und für das Überleben der Nazca-Gesellschaft unverzichtbar geworden waren. Die Bauern bezogen ihr Wasser damals nämlich schon kaum noch aus Flüssen, sondern aus den sogenannten „Puquios“, also Grundwasseranzapfungen, wie David Johnson, der sechs Jahre lang im Auftrag der National Geographic Society vor Ort forschte, eindeutig nachweisen konnte. Deshalb interpretierte er die mysteriösen Nazca-Linien als einen „Text, der in die Landschaft eingekerbt wurde“, um die Bewohner der Region zum Quell allen Lebens zu führen. Hieraus ergibt sich dann auch die Bedeutung der einzelnen Zeichenklassen: Die langgezogenen Trapeze markieren die Grundwasserströme und geben zugleich deren Breite und Fließrichtung an, die Spiralen kennzeichnen wichtige Veränderungen in den Strömungsverhältnissen und die Zickzacklinien symbolisieren die Außengrenzen der wasserführenden Gebiete.

Somit steht fest, daß die Bodenzeichnungen von Nazca und Palpa einerseits ganz konkrete praktische Funktionen erfüllten und andererseits Stätten waren, an denen ein Fruchtbarkeits- beziehungsweise Wasserkult praktiziert wurde, dessen Bedeutung und Intensität sicherlich in dem Maße wuchs, wie die Pampa weiter austrocknete.

Vor dem Hintergrund dieser Erklärung wird dann auch klar, warum die Nazca-Kultur um 600 n. Chr. verschwand und seither keine neuen Symbole mehr in den Boden gekratzt wurden: Alles Beschwören der lebensspendenden Gottheiten blieb vergeblich, denn es kam zu einem dritten und diesmal finalen Austrocknungsschub, der den Menschen in der Nazca-Palpa-Region nur noch eine Möglichkeit ließ, nämlich ihre unwirtlich gewordene Heimat zu verlassen.

Foto: Nazca-Geoglyphen aus der Paracas-Zeit (800 bis 200 v. Chr.) in Peru: Die Bewohner der Region zum Quell allen Lebens führen

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen