© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/12 06. April 2012

Wahrheit spielt nur eine untergeordnete Rolle
Brent Spar, Sarrazin & Guttenberg: Hans Mathias Kepplinger analysiert die Regeln des Skandalisierens
Erik Lehnert

Kaum war Christian Wulff zurückgetreten, ein Nachfolger gefunden und der Skandal damit endlich aus der Welt, bahnte sich bereits der nächste an: Joachim Gauck soll sich der „Relativierung des Holocausts“ schuldig gemacht haben. Als Beweis wird eine Rede aus dem Jahr 2006 vorgezeigt, in der er vor einer „Entweltlichung“ desselben warnt. Allerdings wollte sich daraus kein handfester Skandal entwickeln, auch wenn einige Journalisten viel Mühe darauf verwandten. Warum es nicht gelang, hat viele Gründe, die in jedem konkreten Einzelfall verschieden sind. Deshalb ist es oft unmöglich, den Verlauf und vor allem das Resultat von Skandalisierungen vorherzusagen. Dennoch haben alle Skandale gemeinsame Merkmale.

Der Mainzer Kommunikationsforscher Hans Mathias Kepplinger umreißt diese Merkmale in seinem neuen Buch: Am Anfang steht ein Mißstand, ein Verstoß gegen Moral oder Recht, der einer konkreten Person oder Organisation zugeordnet werden kann. Es folgen zahlreiche Medienberichte, die den Mißstand anprangern und ihn als so bedeutend herausstellen, daß er für jeden von Interesse sein muß. Die Bevölkerung ist empört und der „Täter“ sieht sich als Opfer einer Kampagne, die ihn zu Konsequenzen zwingt – oder auch nicht.

Dieser Ablauf einer Skandalisierung unterliegt Regeln, die Kepplinger als Mechanismen eingehend untersucht. Sie sorgen dafür, daß aus einem Mißstand ein Skandal wird und aus einem Publikum eine empörte Masse. Sie sorgen aber auch dafür, daß sich der skandalisierte Täter als Opfer einer Kampagne fühlt und die Skandalisierung Folgen hat, die weit über den angeprangerten Mißstand hinausgehen.

Kepplinger geht davon aus, daß Skandale keine natürliche Reaktion auf Mißstände sind und in ihnen die Wahrheit nur eine untergeordnete Rolle spielt. Da Skandale kurzlebig sein müssen und oft nach wenigen Tagen zu Konsequenzen führen, kann es keine Wahrheitsfindung geben. In Fällen wie Sebnitz oder Hohmann drehte sich der Skandal um das Gegenteil der Wahrheit, die, als sie viel später ans Tageslicht kam, niemanden mehr interessierte. Der Skandal kennt keine Revision, weil er eine soziale Funktion hat: „Der Skandal zielt auf die Bekräftigung von Normen durch die Unterwerfung derer, die ihnen nicht folgen, und auf die Isolation jener, die sich zu den Normverletzern bekennen.“

Kepplinger führt diesen Wechsel von Empörung und Interesselosigkeit, die den Erfolg des Skandals verbürgen, auf unseren kollektiven Umgang mit Ungewißheiten zurück, bei dem wir uns selbst eine unabhängige Urteilsbildung attestieren, in Wirklichkeit aber nur bereits etablierten kollektiven Sichtweisen folgen. Diese Sichtweisen werden bei einem Skandal innerhalb weniger Tage durchgesetzt oder es gibt keinen Skandal. Die Skandalisierer, meist Journalisten oder PR-Leute, müssen dazu einen Mißstand in ein Schema oder auf eine griffige Formel bringen.

Ob sich daraus ein Skandal entwickelt, hängt dann davon ab, ob sich die richtigen Leute in den richtigen Medien daran beteiligen und ob die Dramatisierung des Skandals gelingt. Das Arsenal reicht dabei von „Horror-Etiketten“ (Giftregen) über optische Übertreibungen bis hin zu Katastrophen-Suggestionen und Schuld-Stapelungen, bei denen kleinere Vergehen zu einer Kette gereiht werden, um den Eindruck der Charakterlosigkeit des vermeintlichen Täters zu erwecken.

Daß solche Strategien erfolgreich sind, hat nicht zuletzt mit der Selbstreferentialität der Medien und der Ko-orientierung der Journalisten untereinander zu tun, was nichts anderes heißt, als daß auch auf dieser Ebene kollektive Sichtweisen dem einzelnen die Gewißheit der Wahrheit vorgaukeln. Die Macht der Medien kann trotz (oder gerade wegen?) dieser Beschränktheit gar nicht überschätzt werden. Kepplinger zitiert Umfragen, aus denen hervorgeht, daß Politiker ihre rechtlichen Möglichkeiten nicht ausnutzen, um gegen Falschdarstellungen in der Presse vorzugehen, weil sie befürchten, durch weitere Publizität mehr zu verlieren als sie durch das Recht gewinnen würden.

Kepplingers Buch ist nicht nur wertvoll, weil es die Mechanismen ausführlich untersucht, sondern auch, weil dies anhand der verschiedensten Beispiele geschieht. Besonders gut eignen sich dafür Skandale, die nachgewiesenermaßen auf Fehlinformationen beruhten, wie das bei der Ölplattform Brent Spar der Fall war. Den Unterschied zwischen Skandal und Mißstand illustriert er durch die Skandalisierung des Schah-Regimes und der chilenischen Junta in Deutschland unter gleichzeitiger Hinnahme der Erschießung von DDR-Flüchtlingen.

Ohne Medien wird aus einem Mißstand kein Skandal. Ob die Skandalisierung dann auch tatsächlich gelingt, ist nicht nur von der betreffenden Person, deren Bekanntheit und dem Zeitpunkt abhängig, sondern auch von deren politischer Haltung. Hier spielen die politischen Präferenzen der Journalisten eine entscheidende Rolle. Doch auch hier gibt es Ausnahmen. Da der Skandal so etwas wie die Existenzberechtigung der Medien darstellt, kann es vorkommen, daß gegen die eigene Präferenz gehandelt wird.

Auch wenn Kepplinger betont, daß es sich bei den analysierten Mechanismen nicht um Naturgesetze handelt, so wird doch deutlich, daß es vor allem die Vielzahl der Faktoren und die Komplexität der Prozesse ist, die eine Vorhersage des Resultats schwierig machen. Im nachhinein dokumentiert seine Arbeit, warum Sarrazin gewonnen hat und Guttenberg zurücktreten mußte. Darin liegt aber auch eine gewisse Ernüchterung, weil das Wissen um die Mechanismen der Skandalisierung nicht verhindern wird, daß der nächste Skandal genauso abläuft. Schließlich geht es, so Kepplinger, beim Skandal nicht um Wahrheit und Aufklärung, sondern um Macht und Deutungshoheit: „Skandale sind Kunstwerke mit klaren Botschaften und starken emotionalen Appellen.“ Sie sind nicht bis ins letzte rational zu erklären und können wohl nur deshalb die Wucht einer Naturkatastrophe entwickeln, gegen die der Betroffene machtlos ist.

Hans Mathias Kepplinger: Die Mechanismen der Skandalisierung. Warum einige öffentlich untergehen – und andere nicht. Olzog Verlag, München 2012, gebunden, 223 Seiten, 26,90 Euro

Foto: Karl-Theodor zu Guttenberg, Michel Friedman, Martin Hohmann, Philipp Jenninger und Thilo Sarrazin (v.o.n.u.): Aus einem Mißstand wird ein Skandal und aus einem Publikum eine empörte Masse

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