© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/12 13. April 2012

Die Dämme sind gebrochen
Mit der europäischen Fiskalunion wird der demokratische Nationalstaat faktisch abgeschafft
Kurt Zach

Stellt euch vor, Deutschland wird abgeschafft, und keiner schaut hin. Kanzlerin und Finanzminister liefern dreist und ungeniert die Haushalts- und Finanzhoheit Deutschlands an der Brüsseler Garderobe ab, bürden jetzigen und künftigen Generationen Zahlungsverpflichtungen und Inflationsrisiken in wöchentlich steigender Höhe auf – aber das Volk und seine vermeintlichen Vertreter lassen sich auf Nebenkriegsschauplätze ablenken und ereifern sich über Benzinpreise, während ihnen das Haus über dem Kopf abgerissen wird.

Kommende Historiker werden wohl mit ungläubigem Kopfschütteln vermerken, daß im deutschen Parlament im Frühjahr 2012 mehr Abgeordnete der Regierungsfraktionen mit Rebellion gegen eine „Betreuungsgeld“ genannte sozialpolitische Umverteilungs-Verirrung drohten als gegen das neue Ermächtigungsgesetz. Nichts anderes ist nämlich das volksverachtende Ansinnen, durch die Etablierung einer EU-„Fiskalunion“ die Verfügung über die deutschen Staatsfinanzen in fremde Hände zu legen.

Mit der jüngsten Erhöhung der sogenannten „Brandmauer“ übersteigt das deutsche Haftungsrisiko allein für ESM und EFSF bereits das Volumen eines ganzen Jahres-Bundeshaushalts um ein Drittel. Zu diesen rund 400 Milliarden Euro kommen weitere verdeckte Risiken in dreistelliger Milliardenhöhe, die in den vertragswidrigen Käufen maroder Staatsanleihen durch die EZB verborgen liegen und in den Forderungen der Bundesbank an die anderen Notenbanken des Euro-Systems – faktisch ein unbegrenzter und ungedeckter „Dispo-Kredit“ an insolvente süd-europäische Euro-Staaten zur indirekten Notenbankfinanzierung weiterer Staatsschulden. Der Finanzierungsbedarf für das Betreuungsgeld macht dagegen nur Prozentbruchteile dieser Gelder aus, die für ein fehlgeschlagenes Währungsexperiment besinnungslos ins Feuer geworfen werden.

Dabei sind die Taschenspielertricks, mit denen Merkel, Schäuble und ihre Euro-Komplizen uns den letzten Dammbruch untergejubelt haben, eine Beleidigung für den gesunden Menschenverstand der Bürger. Niemand vermag mehr die „roten Linien“ zu zählen, die diese Bundesregierung im Euro-Rettungs-Roulette zur Beruhigung der heimischen Wähler schon gezogen und auf Druck von außen dann stillschweigend doch geräumt hat. Der Dauer-„Rettungsschirm“ ESM werde auf ein Ausleihvolumen von einer halben Billion Euro begrenzt, der deutsche Haftungsanteil bei 211 Milliarden gedeckelt, hieß die letzte, die schon wieder Makulatur ist: Frankreich und der IWF forderten die Verdoppelung des Ausleihvolumens, am Ende wurde beschlossen, die 440 Milliarden Kreditkapazität des EFSF, der eigentlich vom ESM abgelöst werden sollte, einfach weiter stehenzulassen.

Das Risiko für den deutschen Steuerzahler ist damit de facto fast verdoppelt und soll trotzdem gleichgeblieben sein. Wer soll das noch glauben? Tatsächlich fahren Merkel und Schäuble den Karren sehenden Auges an die Wand. Sie wissen – Schäuble spricht es offen aus –, daß die Erhöhung der Garantien für die Schulden anderer nichts an den Ursachen der Krise ändert, und machen trotzdem mit. Es wird ihnen nicht entgangen sein, daß mit Italien und Spanien zwei Staaten einen wesentlichen Anteil der Kreditbürgschaften übernommen haben, die selbst wackeln und auf deren Absicherung die Erhöhung des „Rettungsschirms“ gemünzt ist; auch dieser Risikoanteil wird bald genug beim deutschen Steuerzahler landen.

Und sie werden – anders als die meisten Abgeordneten, die ihn demnächst durchwinken sollen – den ESM-Vertrag gelesen haben und wissen, daß er ein weiterer Nagel im Sarg des deutschen Nationalstaats ist. Sie wissen, daß laut ESM-Vertrag die Finanzausstattung eben nicht „gedeckelt“ ist, sondern nur ein Anfang, der periodisch erhöht werden soll. Sie wissen, daß der ESM-Gouverneursrat mit einfacher Mehrheit, also auch gegen die Stimme Deutschlands, sofortige Einzahlungen nach Bedarf verlangen kann und damit direkte Durchgriffsrechte auf die deutschen Staatsfinanzen hat. Und sie wissen, daß sie mit dem ESM ein Monster erschaffen: einen Wechselbalg aus Super-Hedgefonds, Staatsfinanzinstitut und Schattenbank, ohne Aufsicht und Kontrolle.

Daß darüber im Bundestag nicht einmal diskutiert wird, ist ein Skandal. Obwohl ESM und Fiskalunion das Ende des demokratischen Grundprinzips bedeuten, daß die Bürger über ihre gewählten Repräsentanten die Verwendung der von ihnen gezahlten Steuergelder kontrollieren, gibt es keinen grundsätzlichen Widerstand – sieht man einmal von der Linkspartei ab, die beides ablehnt, weil sie Schuldenkrisen nach Kommunistenart lieber durch steuerliche Totalenteignung der Bürger lösen möchte. Der rot-grünen Scheinopposition fällt auch nichts Besseres ein, als für ihre notwendige Zustimmung zum verfassungsändernden Vertragswerk neue Steuern für neue staatliche Geldverteilungsprogramme zu fordern.

Das Volk zu fragen, ob es mit der klammheimlichen Abschaffung seines demokratischen Nationalstaats einverstanden ist, kommt keinem in den Sinn. Daß sich dagegen noch keine politische Widerstandsbewegung formiert hat, die das Parteiensystem aufmischt, erklärt sich nicht zuletzt aus der stillschweigenden Übereinkunft zwischen Leitmedien und Parteienkartell, sich nicht gegenseitig weh zu tun: Die Euro-kritischen Rechtsparteien werden verfemt und beschwiegen, von Hans-Olaf Henkel und den Freien Wählern hört man auch nichts mehr, dafür wird die Spaßpartei einer verwöhnten „Ich will alles und zwar umsonst“-Generation ins Umfragehoch geschrieben, die ausgerechnet zu diesem Thema keine Meinung hat. Das muß nicht so bleiben. Aber die Zeit wird langsam knapp für die Bürger, um gegen ihre politische Enteignung auf die Barrikaden zu gehen.

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