© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/12 13. April 2012

„Mit Vollgas in die Sackgasse“
Wirtschaftsexperte Wolfgang Gerke gehört zu einer seltenen Spezies: Er ist für den Euro – aber gegen die Euro-Rettung. Wie kommt ein Befürworter dazu, wie ein Kritiker zu reden?
Moritz Schwarz

Herr Professor Gerke, warum warnen Sie vor dem kommenden dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM?

Gerke: Weil mit dem ESM der falsche Weg konsequent fortgesetzt wird.

Was bedeutet?

Gerke: Nach meiner Ansicht ist es, wie mit Vollgas in eine Sackgasse zu rasen: Irgendwann ist Schluß und es knallt. Der Bundestag wird den ESM wohl durchwinken, weil sich niemand vorstellen kann, wie es in Europa sonst weitergeht. Dabei könnte es diesbezüglich keine schlimmere Fehlentwicklung geben, als wir sie derzeit erleben.

Der „Spiegel“ schreibt über Sie: „Wolfgang Gerke ist bekannt für deutliche Worte.“

Gerke: Vielen Dank, aber natürlich muß ich fairerweise sagen: Das ist eine Prognose. Ich kann meine Einschätzung nicht wissenschaftlich belegen. Denn keiner kann mit wissenschaftlicher Genauigkeit sagen, wie welcher finanzpolitische Kurs, den wir in der Euro-Krise einschlagen, schließlich tatsächlich endet. Aber ich sehe, daß wir die Krise mit sehr, sehr viel Geld zu bekämpfen versuchen. Das ist nicht nur unter dem Aspekt der hohen Staatsverschuldung gefährlich, sondern auch unter dem der künstlichen Geldvermehrung: So ist die letzte Finanzkrise 2008 entstanden, so legen wir heute den Grundstein für die nächste. Und es wird immer mehr Geld benötigt, weil die Rettungsschirme immer weiter aufgestockt werden müssen. Die neueste Idee ist ja, daß der dauerhafte Rettungsschirm ESM den vorläufigen Rettungsschirm EFSF nicht mehr, wie ursprünglich geplant, ablösen soll, sondern beide Schirme für Jahre parallel laufen. Im Klartext heißt das, daß auf dem ESM draufgesattelt wird! Das ist natürlich „eleganter“, als nach Inkrafttreten des ESM im Sommer wieder mal zu offenbaren, daß selbst seine 500 Milliarden Euro nicht reichen.

Sonst sind es die Euro-Kritiker, die den ESM ablehnen, während die Euro-Befürworter ihn begrüßen. Sie aber zählen zu den wenigen, die pro Euro, aber contra ESM sind. Wie paßt das zusammen?

Gerke: Sehr gut, und ich bin froh, daß Sie die Frage stellen. Denn in der Tat lege ich Wert darauf, daß ich trotz meiner Kritik am ESM ein großer Freund des Euro bin, ihn bei seiner Einführung mit Euphorie begleitet und stets dafür plädiert habe, ihn zu retten.

Auch Hans-Olaf Henkel war zunächst, wie er sagt, sein „enthusiastischer Befürworter“. Heute sagt er allerdings: „Ich habe mich geirrt, der Euro war ein Fehler.“

Gerke: Und das glaube ich eben nicht. Ein Fehler wäre es vielmehr, zur D-Mark zurückzukehren oder den Euro zu spalten, wie Henkel das heute vorschlägt. Denn das wäre ein Rückfall, ja ein Fiasko und würde zu neuem Mißtrauen führen und dazu, daß die Europäer sich wieder handelspolitisch bekämpfen. 

Pardon, Sie selbst haben unlängst in einem Interview konstatiert: „Wir erleben, wie der europäische Solidaritätsgedanke zerbröselt, es zu immer mehr Feindseligkeiten unter den Nationen kommt.“ 

Gerke: Das ist aber nicht die Schuld des Euro, sondern die Schuld dieser Art von Euro-Rettung. Nehmen Sie das Beispiel Griechenland: wir verlangen im Grunde daß das Land sich kaputtspart.

Auch das ist ungewöhnlich: Ein Euro-Befürworter, der im Fernsehen fordert: „Gebt den Griechen die Drachme zurück!“

Gerke: Wir sehen doch, daß selbst der große Schuldenschnitt von 107 Milliarden Euro die Verschuldungsquote des Landes letztlich kaum senkt. Über kurz oder lang wird Athen wohl mit der Bitte um Nachschlag wieder auf der Matte stehen. Eine Sozialisierung der Probleme kann einfach nicht die Lösung sein. Und ohne den Euro kommen die Griechen schneller wieder auf die Beine.

Wo ist da der Unterschied zu Henkel? 

Gerke: Hans-Olaf Henkel will im Grunde nicht, daß Griechenland den Euro verläßt, sondern Deutschland. Bei vielen seiner Argumente stimme ich ihm ja zu, aber er irrt, wenn er den Euro als Ursache der Misere sieht. Die Ursache ist vielmehr die Aufweichung der Kriterien, mit denen der Euro geplant war, nämlich die Kriterien von Maastricht.

Wendet man Ihre Methode an, sprich: hätte Maastricht knallhart Gültigkeit, würde letztlich nicht nur Griechenland den Euro verlassen müssen. Über kurz oder lang würde man auch damit also bei Henkel – sprich: bei der Zweiteilung der Euro-Zone – landen.

Gerke: Nein, statt eines harten Schnitts wie bei Henkel muß man den Ländern Zeit geben, um umzudenken und auf den Pfad der Tugend zurückzukehren. Henkel glaubt nicht, daß das passieren wird, deshalb ist er für die Trennung. Das halte ich für überzogen, denn mit den Kriterien von Maastricht würde der Euro wieder funktionieren.

Tatsächlich? Sie selbst haben in einem Zeitungsinterview eingeräumt: „Der billige Euro hat die Staaten zu Fehlallokationen verführt.“ Das haben die Euro-Kritiker doch von Anfang an vorausgesagt.

Gerke: Ich räume in der Tat ein, daß sich einige der Argumente der Professoren, die damals in Karlsruhe gegen den Euro geklagt haben, als zutreffend erwiesen haben. Aber auch hier gilt: Nur deshalb, weil die Politik die Euro-Verträge nicht eingehalten hat!

Gesetze werden gebrochen, Schulden werden gemacht. So ist die Politik, so ist der Mensch. Auf ein System zu setzen, das nur funktioniert, wenn das nicht so ist – ist das nicht realitätsfremd?

Gerke: Nein, denn es stimmt zwar, daß Fehler immer wieder gemacht werden, aber es wird auch dazugelernt. Deshalb ist es ja so wichtig, endlich zu begreifen daß die Rahmenbedingungen eingehalten werden müssen.

Was macht Sie denn so zuversichtlich, daß das nun endlich passiert?

Gerke: Das passiert eben im Moment nicht – und genau deshalb warne ich ja –, zum Beispiel indem die EZB unlängst eine Billion Euro auf drei Jahre, und das noch zu nur einem Prozent Zinsen, in den Markt gepumpt, quasi verschenkt hat. Oder indem die Politik tatenlos zugesehen hat, wie die EZB zur Bad Bank gemacht wurde. Denn damit hat die EZB im Grunde die Haftung übernommen. Das war in Maastricht so nie vereinbart!

Sie haben das ein „Versagen der deutschen Politik“ genannt.

Gerke: In dieser Hinsicht auf jeden Fall, vor allem in Hinblick auf die Personalpolitik. Denn Berlin hat diejenigen EZB-Vorstände, die diesbezüglich klar „deutsch“ gesprochen haben – wie Axel Weber und Jürgen Stark – nicht genug gestützt, so daß beide das Handtuch geworfen haben. Inzwischen sind nun die wichtigsten Posten in der EZB mit Interessenvertretern besetzt, die eine völlig andere Politik verfolgen als jene, die die deutsche Politik damals in den Verträgen von Maastricht durchgesetzt hat. Denn diese Interessenvertreter – etwa ein Portugiese, ein Luxemburger, ein Italiener, ein Ire – berücksichtigen ganz andere nationale Interessen.

Im Grunde sagen Sie damit, die Bundesregierung hat nicht nur Maastricht verraten, sondern auch die deutschen Interessen preisgegeben.

Gerke: Man muß bitte in Rechnung stellen, daß die Bundeskanzlerin eine sehr schwere Position hat, weil Deutschland gegenüber all den Ländern, die gerne Empfängerländer wären, in der Minderheit ist. Aber wenn man schon in einer solch prekären Position ist, dann muß man wenigstens diejenigen, die die eigenen Interessen vertreten – und es  ist absolut legitim dies zu tun, die anderen machen das ja auch –, die muß man dann unterstützen. Und Berlin hat eben nicht dafür gesorgt, daß wir die Schlüsselpositionen besetzen, sondern die eigenen Leute im Regen stehen lassen – ein Riesenfehler!

Warum stoppt die Opposition diese Euro- Politik der Regierung nicht?

Gerke: Die Opposition tickt in dieser Frage nicht viel anders. Wäre sie an der Macht, hätte sie wohl das gleiche getan, nur noch viel schneller! Ich gebe zu, daß es die Bürger, wenn sie zur Urne gehen, also sehr schwer haben, in dieser Frage jemanden zu finden, der ihnen eine andere Position anbietet.

Also hat Hans-Olaf Henkel wenigstens recht mit seinem Versuch, eine Anti-Euro-Rettungspartei zu gründen, beziehungsweise derzeit die Freien Wähler dazu umzufunktionieren?

Gerke:  Nein, hat er nicht. Denn dies ist zwar eine wichtige, aber es ist nur eine Teilfrage unserer Gesellschaft. Es wäre verkehrt, nur aus diesem einen Grund eine neue Partei zu wählen.

Schlechte Regierungen abzuwählen ist doch die Essenz der Demokratie. Ist Henkels Initiative also nicht exakt das, was uns die Demokratie als Lösungsweg vorschlägt? 

Gerke: Natürlich, wer eine Partei gründen will, der soll es tun, warum nicht? Allerdings, ich bin für ein NPD-Verbot, will sagen, daß ich für ein Verbot bin, wenn eine solche Partei verfassungswidrig ist. Aber ich habe nichts gegen eine Henkel-Partei. Ich würde sie nur nicht wählen, weil ich darin keinen Ausweg sehe.

Was ist Ihr Vorschlag?

Gerke: Die Rückkehr zu Maastricht.

Und wie das politisch erreichen?

Gerke: Ich appelliere an die Volksparteien, sich zu besinnen! Und ich bin froh, daß Karlsruhe etwa festgelegt hat, daß Summen für die Euro-Rettung nur mit Zustimmung des Bundestages bewilligt werden können.

Was, wenn Ihr Appell nichts fruchtet?

Gerke: Ich fürchte, Politik und Finanzwirtschaft sind entschlossen, unsere Probleme in der Tat über die Inflationsrate zu regeln. Wir werden also statt einer Hyperinflation wohl eine schleichende Geldentwertung bekommen, die dann nicht mehr unter zwei Prozent, sondern bei drei bis vier Prozent im Jahr liegt. Das klingt im ersten Moment nicht so dramatisch, aber längerfristig, etwa auf zehn Jahre gerechnet, bedeutet es eine dramatische Umverteilung zwischen Rentnern, Pensionären und Sparern einerseits und Schuldnern andererseits. Wir haben zudem das Problem, daß wir in vielen Bereichen kein Kapital angespart haben. Es fehlt etwa der Kapitalstock für die Renten und Pensionen, so daß man das auf unsere zwei Billionen Euro Staatsverschuldung draufrechnen muß, womit wir schon bei vier bis fünf Billionen Euro wären. Und um das einigermaßen friedlich hinsichtlich des Generationskonflikts abzuwickeln, wird man sich der Inflation bedienen. Wir werden lernen, damit zu leben, aber es ist eine sehr ungerechte Lösung, denn die Cleveren werden profitieren, während der kleine Mann die Zeche zahlt.

Wenn es so kommt, bedeutet das aber doch, daß der Euro nicht nur „für Griechenland zum Fluch geworden ist“, wie Sie im ZDF unlängst gesagt haben, sondern für uns alle?

Gerke: Nein, denn es hat so etwas auch schon vor dem Euro in diversen europäischen Ländern gegeben.

Aber jetzt passiert es dank Euro im großen Maßstab.

Gerke: Sie können nicht alles dem Euro in die Schuhe schieben. Solche Umverteilungsprozesse sind, wie die Euro-Krise selbst, eine Folge unserer politischen  Entscheidungen.

In einem Interview haben Sie gewarnt: „Das Dilemma ist, die Politik ist diesen Weg bereits so weit marschiert, daß es kaum noch ein Zurück gibt.“

Gerke: Ich will nicht völlig ausschließen, daß eine Umkehr möglich wäre, wenn denn der feste politische Wille dazu bestünde. Aber eine Umkehr wird mit jeder weiteren Entscheidung in Richtung des falschen Wegs schwerer, gefährlicher und schmerzhafter. Und wir erleben eine deutliche Machtverschiebung hin zu den Banken. Wenn beim EU-Gipfel ein Repräsentant der Kreditwirtschaft mit den europäischen Finanzministern am Tisch sitzt, um über die Zukunft Europas zu verhandeln, dann sagt das schon einiges. Wir liefern uns der Situation immer weiter aus. Die Geister, die wir gerufen haben, werden wir irgendwann nicht mehr los. Das Wort „alternativlos“ ist quasi zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung geworden.

 

Prof. Dr. Wolfgang Gerke, der „TV-bekannte Bankenprofessor“ (Wirtschaftswoche) ist häufig zu Gast in Funk und Fernsehen, regelmäßiger Interviewpartner der Wirtschaftspresse und gefragter Redner auf Unternehmens- und Bankveranstaltungen. Gerke gilt als Experte für Bank- und Börsenwesen und ist Präsident des Bayerischen Finanz- Zentrums (BFZ). Er lehrte in Passau, Mannheim und Erlangen, war Forschungsprofessor am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, dann wissenschaftlicher Leiter der Frankfurt School of Finance & Management und doziert heute zusätzlich als Honorarprofessor an der European Business School International University Schloß Reichartshausen. Geboren 1944 in Cuxhaven, war er zeitweilig Mitherausgeber der Zeitschrift Betriebswirtschaft und publizierte unter anderem das nach ihm benannte, fast 900 Seiten starke „Gerke Börsen-Lexikon“ (Gabler Verlag). 

 www.bfz-ev.de

Foto: Finanzfachmann Gerke: „Ich fürchte, Politik und Finanzwirtschaft sind entschlossen, die Krise über die Inflation zu regeln ... Die Geister, die wir gerufen haben, werden wir nicht mehr los“

 

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