© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/12 13. April 2012

Tragisches Ende eines Zeitalters
Der Untergang der Belle Époque: Vor hundert Jahren versank die „Titanic“ auf ihrer Jungfernfahrt
Baal Müller

In der Nacht vom 14. auf den 15. April vor hundert Jahren im Nordatlantik nach der Kollision mit einem Eisberg versunken, ist die „Titanic“ rasch zu einem Mythos geworden. Wie bei jedem mythischen Ereignis läßt sich die Bedeutung nicht in Zahlenverhältnissen ausdrücken, sondern es sind qualitative Aspekte, die sich erst in der Rückschau zum Symbol verdichten.

Es gab größere Unglücksfälle in der Geschichte der zivilen Seefahrt – etwa den Untergang der chinesischen Dschunke Tek Sing im Jahre 1822 mit 1.600 Todesopfern oder 1987 den der philippinischen Fähre Doña Paz mit 4.386 Toten –, nicht zu reden von den großen Schiffskatastrophen der Weltkriege, etwa der Versenkung der „Wilhelm Gustloff“ im Januar 1945 mit 9.300 Opfern, aber die Umstände sind andere: Entweder geschah die Katastrophe außerhalb unserer westlichen Hemisphäre, oder der Krieg „marginalisierte“ sie durch sein alltägliches Grauen.

Gewaltig waren für damalige Verhältnisse die Abmessungen der „RMS Titanic“ – 269,04 Meter Länge und über 46.000 Bruttoregistertonnen (BRT) Schiffsraum –, aber nicht außerordentlich, hatte die britische Reederei White Star Line doch bereits mit der „Olympic“, dem ersten Schiff der Olympic-Klasse, zu der auch die „Titanic“ gehörte, neue Maßstäbe gesetzt. Beide Schiffe waren im wesentlichen baugleich, nur aufgrund einiger Details war die „Titanic“ geringfügig länger. Und bereits einen Monat nach ihrem Untergang mußte sie den Rang des größten Schiffes der Welt an das mehr als 52.000 BRT umfassende deutsche Passagierschiff „Imperator“, die Antwort der Hapag auf die britische Konkurrenz, abtreten.

Oft wird der materialistische Fortschrittskult des neunzehnten Jahrhunderts angeführt, der mit dem Untergang der „Titanic“ sein Ende gefunden habe. Dabei wurde das in diesem Zusammenhang meist genannte Prädikat „unsinkbar“ der „Titanic“ erst nach ihrer tragischen Jungfernfahrt, die sie von Southampton nach New York hätte führen sollen, beigelegt; sie repräsentierte mit ihren automatischen Wasserschutztüren zwar den neuesten technologischen Stand, wurde aber niemals als absolut sicher beworben. Es war auch kein technischer Schaden, sondern menschliches Versagen, das ihren Untergang bewirkte.

Wie die nachfolgenden Untersuchungen ergaben, wurden die Warnungen vor Eisbergen, deren Vorkommen in den durchfahrenen Gewässern nichts Ungewöhnliches war, nicht hinreichend beachtet, und die Geschwindigkeit war unter diesen Bedingungen zu hoch. Erstaunlicherweise verfügten die Matrosen im Ausguck über keine Ferngläser – diese sollen sich während der gesamten Fahrt in einem verschlossenen Schrank befunden haben –, und es stand auch nicht für alle Personen, sondern nur für etwa die Hälfte der 2.224 Menschen an Bord, Platz in den Rettungsboten zur Verfügung. Dies entsprach jedoch auf stark befahrenen Routen der damaligen Gepflogenheit, da man davon ausging, angesichts des sich über Stunden hinziehenden Sinkprozesses jedes Boot mehrfach nacheinander einsetzen zu können – in diesem Fall ein großer Irrtum, denn der Bordfunker auf der „SS Californian“, die dem Unglücksort am nächsten war, hatte gerade dienstfrei, und die „RMS Carpathia“, auf die sich schließlich 711 Menschen retten konnten, traf erst rund vier Stunden nach Absendung der Notrufe um 0.15 Uhr beziehungsweise zwei Stunden nach dem Untergang des Schiffes um 2.20 Uhr ein; zu dieser Zeit waren bereits viele Schiffbrüchige, die sich an Trümmer klammern konnten, in den eisigen Fluten erfroren.

In merkwürdigem Kontrast zu solcher Sorglosigkeit stand die eiserne Disziplin während der Evakuierung: Die Besatzung blieb bis zum letzten Augenblick an Bord, und das Prinzip „Frauen und Kinder zuerst“ wurde von manchen Offizieren so strikt gehandhabt, daß einige Rettungsboote eher in halber Auslastung zu Wasser gelassen wurden als Männer mitzunehmen; besonders hoch waren die männlichen Opferzahlen vor allem bei den Reisenden der zweiten, am stärksten dem bürgerlichen Ehrenkodex verpflichteten Klasse sowie bei denen der dritten, deren Schlafkammern weit vom Bootsdeck entfernt waren. Gleichwohl gehörten zu den über 1.500 Todesopfern der „Titanic“ viele Industrielle und Geschäftsleute, darunter auch die vier reichsten Männer an Bord – nach heutigen Maßstäben Milliardäre.

Weit mehr als der Fortschritts- und Technikglauben der Gründerzeit war es die Belle Époque, die mit der Titanic unterging: das Zeitalter eines scheinbar unbeschwerten Luxus am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Die düster-morbide Faszination, die sich mit dem Namen „Titanic“ verbindet und seit hundert Jahren Autoren, Musiker und Filmemacher inspiriert, richtet sich weniger auf die Frage, ob die Kollision zu vermeiden oder besser zu bewältigen gewesen wäre, sondern auf die Welt der Eleganz und Vornehmheit, die mitsamt ihren Suiten und Promenadendecks, türkischem Bad und Squashanlage, Rauchsalons, Speisesälen und Cafés in der Tiefe versank. Zwei Jahre später begannen die Materialschlachten, in denen das alte Europa verblutete. Wurde der Kampf ums Dasein zwischen den Nationen 1912 noch ökonomisch-technologisch ausgefochten, so trat er 1914 in der militärischen Zuspitzung hervor, und das bereits als fiebrig empfundene Funkeln der goldenen Lüster mußte den Stahlgewittern weichen.

Über diese Epochensymbolik hinaus aber ist es die allgemeine Sinnbildlichkeit des menschlichen Scheiterns, die am Untergang der „Titanic“ so eindrucksvoll wie banal aufscheint: Man kann alle Vorschriften einhalten und trotzdem Schiffbruch erleiden.

Foto: Der Untergang der Titanic, nach einer zeitgenössischen Zeichnung von Willy Stoewer (1864–1931): Düster-morbide Faszination

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