© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/12 20. April 2012

Radikalisierung des Nationalismus
Ein gescheitertes Leben: Johannes Leicht über Heinrich Claß, den Führer des Alldeutschen Verbandes
Jakob Apfelböck

Wer die deutschen Katastrophen des 20. Jahrhunderts betrachtet, kann zu dem Schluß kommen, daß der Nation der größte Schaden ausgerechnet von jenen zugefügt wurde, die vorgaben, ihre Interessen am radikalsten zu vertreten.

Dieser Zusammenhang ist keine Denkfigur der Reeducation, sondern war bereits den politisch Verantwortlichen der wilhelminischen Zeit bewußt, die sich einer immer rigoroser werdenden nationalistischen Agitation zu erwehren hatten. Diese störte nicht nur die ungelenken diplomatischen Bemühungen Berlins, aus der Einkreisung auszubrechen, da sie mitten im Frieden Forderungen erhob, die im Ausland nur als Kriegsziele begriffen werden konnten. Sie weitete sich, je stärker die völkische Weltanschauung in ihr zum Tragen kam und je erfolgreicher die demokratischen Parteien – kulminierend in den Reichstagswahlen des Jahres 1912 – wurden, zunehmend auch zu einer Verfassungskritik aus, die nicht einmal vor dem Monarchen haltmachte.

Zum Synonym für die nationalistische Rechte des Kaiserreiches ist im Rückblick der 1891 gegründete Alldeutsche Verband geworden, der sich unter seinem ab 1908 amtierenden Vorsitzenden Heinrich Claß von einer auf Mäßigung und Loyalität zur Regierung bedachten Gesinnungsgemeinschaft von Honoratioren zu einer oppositionellen Lobbygruppe nach modernem Verständnis wandelte. In der Spurensuche nach Richtungsgebern für den vermeintlichen deutschen Sonderweg wurde und wird ihm allerdings zumeist eine Bedeutung zugesprochen, die er zu keiner Zeit wirklich erlangte.

Seine Mitgliederzahl blieb sowohl im Kaiserreich mit unter 20.000 bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges als auch in der Weimarer Republik mit angeblich 52.000 als Höchststand im Jahr 1922 deutlich hinter jeder anderen Gruppierungen mit mehr oder weniger nationalistischer Ausrichtung zurück. Entgegen der Legende waren auch seine finanziellen Ressourcen alles andere als unerschöpflich, mitunter sogar prekär. Für Kampagnen seiner Leitung ließ sich die Mitgliederbasis nicht mobilisieren. Die Beeinflussung einer breiteren Öffentlichkeit entsprach zunächst nicht dem elitären Politikverständnis des Verbandes und war ihm in der Weimarer Republik, als er sie als unerläßlich erkannte, nicht möglich.

Auch die Geschäftigkeit hinter den Kulissen, die die verschwörungstheoretische Phantasie seiner Gegner anregte, blieb unter dem Strich fruchtlos. Im Kaiserreich fand der Alldeutsche Verband mit seinen Denkschriften und Pamphleten kein Gehör und konnte auch auf die Besetzung von Führungspositionen in Politik und Verwaltung keinen Einfluß nehmen. Stattdessen sah er sich immer mehr an den Rand gedrängt und ob seiner „Politik vom Standpunkte der Bierbank aus“ (Reichskanzler Bernhard von Bülow) verspottet. In den Ränken der extremen Rechten nach dem verlorenen Krieg war sein Vorsitzender zwar omnipräsent, aber ohne Gewicht.

Diese ernüchternde Bilanz eines Scheiterns über die Epochenschwellen hinweg ist der rote Faden der „politischen Biographie eines Alldeutschen“, die Johannes Leicht als Dissertation über Heinrich Claß verfaßt hat. Den Anspruch, damit nicht bloß eine einzige Person, sondern insgesamt eine von ihm als „wilhelminisch“ getaufte Generation porträtiert zu haben, vermag er jedoch nicht einzulösen. Dies ist natürlich in erster Linie auf Claß selbst zurückzuführen, der als Randerscheinung, die er zeitlebens war, kaum als typisch für jene Alterskohorten gelten kann, die nach dem Abgang Bismarcks allmählich die politische Bühne betraten.

Allerdings sät Leicht auch Zweifel, ob er mit der schillernden Geistes- und Sozialgeschichte jener Zeit tatsächlich vertraut ist – über weite Passagen seines Buches kommt eher der Eindruck auf, daß dies genau nicht der Fall ist. So verharrt er in unermüdlicher und wortreich ausgeschmückter Fassungslosigkeit, wann immer er gezwungen ist, die Ideen und Wortmeldungen von Claß zu referieren. Zum Verständnis eines historischen Phänomens ist dies keine gute Ausgangsposition.

Ein von Untergangsängsten geplagter Alarmismus

Vorschnell und hölzern entledigt sich Leicht der Aufgabe, Begriffe wie „Nation“ zu erläutern oder den historischen Rahmen der Zeit zwischen 1890 und 1933 grob zu skizzieren. Wer sich etwa in der Darstellung der Ursachen des Kriegsausbruchs im Jahr 1914 heute immer noch weitgehend auf Fritz Fischers Thesen aus den sechziger Jahren stützt, ist wissenschaftlich schlichtweg nicht mehr auf neuestem Stand.

Leichts Leistung wird dadurch aber nur unwesentlich geschmälert. Sie ist zum einen darin zu sehen, daß er minutiös nachzeichnet, wie die nationalistische Rechte bereits im Kaiserreich peu à peu durch einen anfänglich in esoterische Schmuddelecken verbannten Antisemitismus kontaminiert wurde. Zum anderen führt er vor Augen, daß die Weigerung der sogenannten „Konservativen Revolution“ einschließlich der Nationalsozialisten, sich einer nostalgischen Politik der Restauration zu verschreiben, nicht allein dem Schock des Zusammenbruchs von 1918 geschuldet ist, sondern bloß eine Traditionslinie ohne größere originelle Veränderungen fortsetzt.

Als konstitutiv für das rechte Milieu von einst schälen sich bei Leicht ein von Untergangsängsten geplagter Alarmismus und eine missionarische Selbstüberschätzung heraus. Die Passagen, in denen er nüchtern Leitungsbesprechungen des Alldeutschen Verbandes nach 1914 schildert, auf denen fernab des Schlachtenlärms wie auch der Machtzentralen des Reiches um die Formulierung von Kriegszielen nach einem deutschen Sieg gerungen wurde, gehören zu den gespenstischsten und zugleich amüsantesten des Buches.

Johannes Leicht: Heinrich Claß (1868–1953). Die politische Biographie eines Alldeutschen. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2012, gebunden, 464 Seiten, Abbildungen, 58 Euro

Foto: Heinrich Claß um 1925, Karikatur der Alldeutschen: Als Randerscheinung wenig typisch für Alterskohorten der Jahrhundertwende

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