© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/12 27. April 2012

Über das Tabu
Gibt’s schon Selbsthilfegruppen?
Rolf Dressler

Öffnet Tabulosigkeit das goldene Tor zum Freiheitsparadies auf Erden? Diesem Fundamentalirrtum sitzen Menschen immer von neuem auf, die heutigen eingeschlossen. Umgekehrt aber errichten verbissene Volks(um)erzieher fortwährend Tabubarrieren, die nur eines zum Ziel haben: Die Leute sollen mit aller Macht von unerwünscht heiklen Problemthemen ferngehalten werden, damit sie darüber möglichst gar nicht erst in näheres kritisches Nachdenken geraten. Beispiele dafür gibt es reichlich. Warnlampen sollten immer dann aufleuchten, wenn Politikschaffende oder Ideologen im Journalistengewand dröhnend vor einem Tabubruch warnen.

Das Lexikon beschreibt Tabus als Verbote, die aufgrund abergläubischer Vorstellungen bei Naturvölkern weit verbreitet sind; und zwar bezogen auf Personen und Gegenstände, deren Anblick oder Berührung untersagt ist, sowie auch auf Wörter und Begriffe, die keinesfalls verwendet, und auf Glaubensdinge, die nicht bestritten werden dürfen.

Wie aber halten wir es in der ach so aufgeklärten Demokratie? Ist das Tabu als solches etwa selbst tabu? Schon vor fast zehn Jahren fragte ein ehemaliger „Ossi“ augenzwinkernd, wie unsere Tabus denn überhaupt zustande kämen. Per Volksabstimmung? Durch Beschluß des Deutschen Bundestages? Und, ganz lebenspraktisch: Unter welcher Internetadresse man als interessierter Zeitbegleiter ein Verzeichnis aller aktuell zu beachtenden Tabus anfordern könne. Oder ist es so, daß jeder sie kennt, weil sie das sind, worüber niemand spricht? Sehr bedenkenswert außerdem: Wer urteilt eigentlich über Tabubrüche? Das Volksempfinden? Das Bundesverfassungsgericht? Und wie geht ein mündiger, aufgeklärter, kritischer Bürger mit Tabus konkret um? Kommt der Normalmensch mit ihnen zurecht – und, wenn er sich damit schwertut, gibt es Selbsthilfegruppen zumindest für die ganz schwierigen Fälle? Fragen über Fragen.

Wie auch immer, wahrscheinlich bedürfte gerade der Tabu-Begriff der breitesten Aussprache überhaupt. Bedauerlich nur, daß er selbst eine solche sinnreiche Erörterung offenbar am allerwenigsten zuläßt. Nach alledem bleibt eines gleichwohl tröstlich: Wenn nicht alles täuscht, gab es die kollektive Bestrafung für einen Tabubruch zum gottlob bislang letzten Mal bei der biblischen Sintflut.

 

Rolf Dressler war langjähriger Chefredakteur beim „West­falen-Blatt“ in Bielefeld und ist nun freier Journalist.

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