© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/12 27. April 2012

Urvater des Ungehorsams
Ein amerikanischer Waldgänger: Henry David Thoreau propagierte den gewaltfreien Widerstand
Baal Müller

Wer heute das Recht auf „zivilen Ungehorsam“ und „gewaltfreien Widerstand“ in Anspruch nimmt, weiß sich meist auf der sicheren Seite. Er gilt als mutig und ethisch verantwortungsbewußt, ist selbstverständlich links und braucht kaum ernste Konsequenzen zu fürchten. Oft genug haben Rote und Grüne schon bewiesen, daß ihre Widerständigkeit im Namen von Fortschritt und Gemeinwohl nur solange währt, bis sie die Regierungsgewalt erlangt haben und dann mindestens ebenso repressiv nutzen wie ihre „reaktionären“ Gegner – und doch wächst ihr moralisches Kapital, nicht zuletzt aufgrund der Machtverhältnisse in den Massenmedien, immer wieder nach.

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt jedoch zweierlei: Zum einen war der Ungehorsam gegenüber der Obrigkeit in Zeiten, in denen diese nicht so geschickt war, ihre Untertanen selbst zum „Aufstand der Anständigen“ zu rufen, noch mit wirklichen Risiken verbunden; zum anderen handelte es sich bei ihm in seinen Ursprüngen nicht unbedingt um ein linkes Projekt, sondern zuweilen um einen Ausdruck aristokratischen Geistes: „Wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte“, steht auf dem Grabstein des preußischen Generals Johann Friedrich Adolf von der Marwitz, der sich gegen Ende des Siebenjährigen Krieges weigerte, ein sächsisches Schloß ebenso zu plündern, wie die Sachsen es mit dem Schloß Charlottenburg gemacht hatten, und den – weiterhin verehrten – König Friedrich II. um Abschied aus der Armee ersuchte.

Fast ein Jahrhundert nach dieser denkwürdigen – von den Verschwörern des 20. Juli aufgegriffenen – Befehlsverweigerung verstarb am 6. Mai 1862 der amerikanische Schriftsteller und Philosoph Henry David Thoreau in seiner Geburtsstadt Concord in Massachusetts. Er hinterließ ein schmales Werk, das ihn in den Augen unzähliger Hippies, Nonkonformisten und Verfechter des gewaltlosen Widerstands zu ihrem geistigen Urvater werden ließ.

Mindestens ebensosehr wirkte er aber auch durch seine – äußerlich unscheinbare – Biographie, die durch seine Besinnung auf das Wesentliche, sein Experimentieren mit einer freien, jedoch nicht einsiedlerischen Existenz und die so sanfte wie unbedingte Suche nach Authentizität bis heute fasziniert.

Am 12. Juli 1817 als Sohn eines Bleistiftfabrikanten geboren, studierte er einige Jahre in Harvard und arbeitete kurzzeitig als Lehrer; bald quittierte er jedoch seinen Dienst, weil er die damals übliche körperliche Züchtigung als Erziehungsmittel ablehnte, und gründete 1838 zusammen mit seinem Bruder eine Privatschule, die allerdings schon vier Jahre später nach dessen Tod geschlossen werden mußte.

In dieser Zeit lernte er den vierzehn Jahre älteren Dichter Ralph Waldo Emerson kennen, der ihn – als Hauptvertreter des amerikanischen Transzendentalismus, einer vom Deutschen Idealismus geprägten, religiös-humanitären Gesinnung – in seinen reformerischen Ideen bestärkte. Am 4. Juli 1845, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, bezog Thoreau eine selbstgebaute Blockhütte am Walden-See, um seine persönliche Unabhängigkeit zu finden. Er lebte dort etwa zwei Jahre, entwickelte ein intensives Gespür für die Natur und notierte in seinen Tagebüchern grundlegende Reflexionen über ein einfaches, selbstbestimmtes Leben als Alternative zu moderner Unrast, Geld- und Besitzgier sowie entfremdeter Arbeit.

Besondere Bedeutung sowohl für ihn als auch für die politische Ideengeschichte der Moderne erlangte der 23. Juli 1846, an dem er inhaftiert wurde, weil er sich weigerte, eine – aus heutiger Sicht ziemlich geringfügige – Steuer zu bezahlen; der zuständige Beamte bot ihm sogar an, ihm den Betrag vorzustrecken, was Thoreau mit dem Argument ablehnte, er wolle die Sklaverei und den Krieg gegen Mexiko nicht unterstützen. Da seine Steuerschuld schon länger feststand, ist der Vorwurf indes nicht ganz von der Hand zu weisen, er habe eine nachträgliche ethische Rechtfertigung gesucht. Am nächsten Tag waren die Schulden plötzlich von einem Verwandten bezahlt, und Thoreau wurde wieder freigelassen.

Die Nacht im Gefängnis wurde für ihn zu einem Schlüsselerlebnis: 1849 veröffentlichte er den unter dem späteren Titel „Civil Disobedience“ (Ziviler Ungehorsam) berühmt gewordenen Essay „Resistance to Government“, auf den sich im 20. Jahrhundert Mahatma Gandhi und Martin Luther King beriefen; 1854 folgte „Walden or Life in the Woods“, ein Kultbuch späterer Alternativbewegungen (JF 34/05). Thoreau wandte sich nun stärker der Öffentlichkeit zu, hielt Vorträge, in denen er Sklaverei und soziale Ungerechtigkeit anprangerte, und lebte ansonsten von gelegentlichen Arbeiten als Landvermesser. In den letzten Jahren seines kurzen, durch eine Tuberkulose-Erkrankung beendeten Lebens begeisterte er sich für den Sklaverei-Gegner und Guerilla-Kämpfer John Brown, den er gar mit Jesus verglich.

Man kann in seinem Werk schon alle Züge späterer Bürgerrechtler ausmachen – auch den moralischen Rigorismus, der durchaus selbstgefällige Tendenzen aufweist, oder das Changieren zwischen Gewaltlosigkeit und Gewaltbewunderung –, aber man muß ihm zugute halten, daß sein Individualismus noch keine wohlfeile, massenkompatible Haltung war und er bereits Probleme behandelte, die wir heute täglich in den Medien wiederfinden.

Am wirkmächtigsten war sein Rekurs auf das eigene Gewissen, von dem aus man politische Fragen beurteilen solle. So richtig dieser Appell grundsätzlich ist, so fragwürdig wird er, wenn er zur Moralisierung der Politik vom individuellen Standpunkt aus führt, ohne daß der Fortbestand von Volk und Nation als maßgebende Kategorie einbezogen wird. Politik und Moral gehören verschiedenen Sphären an, und ihre linke Vermischung führt zu Totalitarismus und Tugendterror.

Anders als viele, die ihn später für sich reklamierten, hat Thoreau bereits klar gesehen, daß auch demokratische Mehrheitsentscheidungen nicht garantieren, daß das Gute und Richtige verwirklicht wird. Aus diesem Grunde war Thoreau nicht nur Bürgerrechtler, sondern auch Waldgänger und Anarch.

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