© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/12 27. April 2012

Das Pfingstfest des Sozialismus
Die Ursprünge des Maifeiertags und seine Verführungsmacht in den totalitären Systemen
Hans-Bernhard Wuermeling

Um Philosophisches zum 1. Mai zu äußern, muß man zunächst nach dem fundamentum in re, nach den Grundlagen der Sache, fragen: Wie kam der Maifeiertag zu seinem Datum? Und was wurde im Verlauf seiner Geschichte gefeiert, bis er seine heutige Bedeutung erhielt? Und was könnte diese sein?

Angefangen hat es Ende des 19. Jahrhunderts mit sozialen Mißständen in den USA. Arbeiter revoltierten gegen ihre Ausbeutung und verlangten die Reduktion der Arbeit auf den Achtstundentag, den die Unternehmer verweigerten. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, drohten die Arbeiter damit, die Arbeit niederzulegen. 1886 bot sich dafür jener Tag an, zu dem schon immer Arbeitsverhältnisse beendet und begonnen wurden, nämlich der 1. Mai. An diesem Tag kam es in Chicago nach einem Bombenattentat zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Toten und Verletzten. In den Folgejahren wurde dann jeweils am 1. Mai – auch international – für den Achtstundentag demonstriert und der Opfer von 1886 gedacht.

In Brüssel beschloß ein Arbeiterkongreß dann 1891, den 1. Mai als einen gemeinsamen Festtag der Arbeiter aller Länder zu feiern, und zwar als einen Tag der Arbeitsruhe. Im Laufe der Zeit erhielt dieser Feiertag durch die Wortwahl der Parolen einen geradezu religiösen Charakter: „Unser Pfingstfest, zu welchem der Heilige Geist des Sozialismus mit Kraft werbend durch die Lande zieht“, und: „Sozialismus, dein Reich komme!“ Kurt Eisner spricht davon, daß das „Völkerfest“ des 1. Mai als unmittelbar zu erzwingendes Ziel „ein goldenes Zeitalter der Arbeit und Freude“ setze, „weit über weltliche und religiöse, heidnische und christliche Feste der Vergangenheit“. Im Dritten Reich verlangt Joseph Goebbels schließlich – quasi wie für eine Fronleichnams-prozession –, dem religiösen Charakter des 1. Mai auch sichtbaren Ausdruck zu verleihen: „Bekränzt eure Häuser und Straßen der Städte und Dörfer mit frischem Grün und mit den Farben des Reiches! Kein Zug und keine Straßenbahn fährt durch Deutschland, die nicht mit Blumen und Grün geschmückt ist! Die öffentlichen Gebäude, Bahnhöfe, Post- und Telegrafenämter werden in frischem Grün erstehen!“

Im real existierenden Sozialismus hatte allerdings Maxim Gorki bereits befunden, es sei „eine wundervolle Idee, das Frühlingsfest der Arbeiter zu einem Feiertag der freiwilligen Arbeit zu machen“. Und er hielt es für ein Verbrechen, den Sinn solcher Feiergestaltung nicht zu verstehen. So wurde nach dem Streiktag der Ruhetag gerade umgekehrt in einen Tag der zusätzlichen – und selbstverständlich unbezahlten – Arbeit verwandelt. Wer eine solche nicht „freiwillig“ leisten wollte, den nannte man einen „Arbeitsdeserteur“, gegen den „die fortgeschrittensten Reihen der Proletarier Zwang ausüben“ sollten, bis die ganze Bevölkerung zu einer einzigen Arbeitsarmee zusammengefaßt sei. Man beachte das Wort „Zwang“ und besonders die militärischen Bezeichnungen „Deserteur“ und „Armee“! In der Sowjetunion kam es nämlich am Maifeiertag zu gewaltigen Militärparaden, die den ursprünglich ökonomischen Sinn des 1. Mai verdrängten. Hitler folgte dann den Sowjets mit dem seit 1934 gesetzlich so genannten „Nationalen Feiertag des deutschen Volkes“, indem er bei seinen Maifeiern die Waffen vorführte, mit denen er 1939 den ihn schließlich vernichtenden Zweiten Weltkrieg begann. Seine großspurige Rhetorik („Mein Wille – das muß euer aller Bekenntnis sein – ist euer Glaube“) wurde von den Massen bejubelt, sein Unsinn nicht begriffen.

Unbegreiflich erscheint bei der geschichtlichen Betrachtung das Umschlagen eines Feiertages, der zur Freude verhelfen sollte, in einen Tag der militärischen Aggression und des Krieges. Darüber läßt sich philosophieren. Josef Pieper (1904–1997), einer der meistgelesenen Philosophen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, geht unserem Erstaunen über diesen Umschlag denkend nach. Er findet vom französischen Soziologen Roger Caillois festgestellte Gemeinsamkeiten zwischen einem Fest und dem Krieg: „Der intensivste Kräfte-Umsatz und -verzehr, Ausbruch gestauter Energien, Einschmelzung des Einzelmenschen in einen übergreifenden Gesamtvorgang, Vergeudung des sonst bedachtsam Zusammengehaltenen, rauschhafte Aufhebung der Schranken – und so fort.“

Im Vernichtungsrausch des Krieges erblickt er jene kollektive Selbstverneinung, die bereits von vielen Individuen gepflegt wurde. Im Gegensatz dazu hält er die „Zustimmung zur Welt“ für den Urgrund allen Feierns von Festen im ursprünglichen und unreflektierten Verständnis. Unter dieser Überschrift findet man seine Theorie des Festes in einem schmalen, jetzt neu aufgelegten Buch mit dem gleichnamigen Titel ausgebreitet. Diese Theorie geht weit über die hier beschriebene Ambivalenz (oder genauer Verführbarkeit und Verführungsmacht des Festes) hinaus und berührt auch die Frage nach einem in sich selbst sinnvollen Tun, die kultische Preisung als Ursache des Festes, die Überwucherung der traditionellen Feste durch das Kommerzielle und, wie oben beschrieben, die Nähe des Festes zum „Anti-Fest“. Eine nachdenklich machende Lektüre zum 1. Mai.

Die leicht lesbare Philosophie Piepers erscheint neuerdings – auch mit anderen Einzeldarstellungen – in der Reihe der Topos-Taschenbücher, zuletzt mit dem Thema „Glück und Kontemplation“.

Vergeblich blieb übrigens der fromme Versuch der katholischen Kirche, dem Maifeiertag einen christlichen Sinn zu verleihen, indem sie ihn dem heiligen Josef dem Arbeiter geweiht hat. Ob dieser sein Zimmermannshandwerk als Arbeiter oder als Unternehmer ausgeübt hat, muß zudem ungewiß bleiben. Aber erfolgreicher als die Sozialisten haben die Päpste auf die sozialen Probleme reagiert, die Anlaß für den Maifeiertag waren: Mit ihren Enzykliken „Rerum novarum“ und „Quadragesimo anno“ haben sie eine christliche Soziallehre geschaffen. An diese sollte sich die Politik an einem 1. Mai erinnern und ihre grundlegenden Prinzipien, nämlich nicht nur die Solidarität, sondern auch die Subsidiarität tagtäglich realisieren.

Josef Pieper: Zustimmung zur Welt. Eine Theorie des Festes. Topos Taschenbücher, Kevelaer 2012, broschiert, 92 Seiten, 8,90 Euro

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