© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/12 04. Mai 2012

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Frei von Gott
Matthias Bäkermann

Ich bin, wenn Sie es so wollen, ein Neoliberaler. Ich bekenne mich zur Marktwirtschaft als einem einzigartigen Entmächtigungsprogramm.“ Als Joachim Gauck 2009 diese vor dem Publikum der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit keineswegs kokett geäußerten Sätze formulierte, hatte er wahrscheinlich noch nicht ahnen können, daß er drei Jahre später als Bundespräsident eilfertigst zum Abnicken ganz anderer „Entmächtigungsprogramme“ in Form des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) schreiten würde, die nicht nur der Fiskalhoheit der Staaten, sondern insbesondere der Marktwirtschaft als solcher hohnsprechen.

Mit dem Redner zur „6. Rede für die Freiheit“, den die FDP-nahe Stiftung für ihren jetzt beinahe traditionellen Querdenker-Frontalunterricht in der guten Stube der Hauptstadt vis-à-vis zum Brandenburger Tor gewinnen konnte, dürften die Liberalen das Risiko eines unabsehbaren Karrieresprungs nicht eingegangen sein. So muß Karl Kardinal Lehmann als ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz wohl kaum auf höhere Weihen hoffen, selbst wenn dereinst ein Nachfolger seines früheren Kardinalskollegen Ratzinger bestimmt werden sollte. Denn mehr als die Rolle eines Brennstofflieferanten in einem vatikanischen Konklave wird dem liberalen Theologen, der als 87. Nachfolger Bonifatius’ den „Heiligen Stuhl von Mainz“ einnimmt, nicht beschieden sein. Eigentlich ein Grund mehr, zum Thema „Freiheit braucht Ethik“ als Kirchenmann kein Blatt vor den Mund zu nehmen.

Doch die gut 300 Zuhörer in der hauptstädtischen Allianz-Repräsentanz, darunter neben dem Stiftungsvorsitzenden Wolfgang Gerhardt die Staatsministerin Cornelia Pieper und Bundestagsvize Hermann Otto Solms, brauchten einer katholischen Strafpredikt – dem Allmächtigen sei Dank – nicht standhalten. Stattdessen brillierte der frühere Katheder-Theologe Lehmann mit einer dreiviertelstündigen Vorlesung, die er routiniert im wissenschaftlichen Stakkato verabreichte. Den Freiheitsbegriff gelehrt umreißend, konsultierte der frühere Adlatus Karl Rahners beim Zweiten Vatikanum die Heerscharen der klassischen Philosophie. Ausgehend von den Griechen ließ Lehmann über Kant, Heidegger bis hin zu Adorno, Horkheimer und Sartre fast keinen Denker aus, um die Leitplanken seiner „die Freiheit zügelnden Ethik“ zu formulieren – zum Bezug auf den lieben Gott oder dem Christentum als Werteinstanz sah sich der intellektuelle Purpurträger gar nicht erst genötigt und ließ beide gänzlich unerwähnt. Längst vergangene Irritationen mit allen Ultramontanisten aus dem 19. Jahrhundert klug reflektierend, umschiffte der Mainzer Kardinal an diesem Aprilabend nach eigener Aussage sogar ganz bewußt das „Verhältnis Liberalismus und Christentum“. Immerhin reichte es letztlich, um eine lupenrein zivilgesellschaftliche Definition zu präsentieren, in der einer („immer subjektiven“) Freiheit mit einer Portion „Toleranz und Respekt“ schon der richtige Pfad ins autoritäre Dickicht geschlagen werden könne.

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