© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/12 04. Mai 2012

Eine neue Form der Leibeigenschaft
Krisenanalyse I: Der Philosoph Alain de Benoist kritisiert die „Herrschaft des Geldes“ / Buchvorstellung in der Bibliothek des Konservatismus
Jörg Fischer

Seit vier Jahren bestimmt die Weltfinanzkrise die wirtschaftspolitische Diskussion. Daß die Nationalstaaten Großbanken und Versicherungen vor dem Untergang retten mußten, hat viele Grundthesen der dominierenden angelsächsischen Wirtschaftslehre in Frage gestellt. Der Glaube an die Vollkommenheit der Märkte und die Rationalität der Finanzakteure geriet angesichts von milliardenschweren „Rettungspaketen“ ins Wanken. Der als lästig verachtete Staat und seine Bürger mußten sich dafür noch höher verschulden, damit die Profiteure des „Kasino-Kapitalismus“ (Hans-Werner Sinn) nicht in Haftung genommen werden, wie es in einer Marktwirtschaft sonst gang und gäbe ist. Seit zwei Jahren überlagert die Euro-Krise die längst nicht ausgestandene Weltfinanzkrise.

Angesichts dessen sieht Alain de Benoist die Welt „Am Rande des Abgrunds“, so der Titel seines neuesten Buches, das auf deutsch wieder in der Edition JF erschienen ist. Der französische Philosoph analysiert in seiner „Kritik der Herrschaft des Geldes“ die einzelnen Stufen der Finanzkrise und forscht zugleich nach den Ursachen. Die derzeitige Krise ist für Benoist keine vorübergehende, konjunkturelle, sondern eine strukturelle, im Wirtschaftssystem liegende, die der Logik des Kapitals folge, welches nur ein Motto kenne: Immer mehr! Vergangene Woche war Benoist zur Buchvorstellung in Berlin – und dies war zugleich auch die erste öffentliche Veranstaltung nach der Eröffnung der „Bibliothek des Konservatismus“ in der Berliner Fasanenstraße (JF 48/11).

Oberflächlich betrachtet klingt Benoists Kapitalismuskritik „links“ – und im JF-Interview (18/12) bekannte der Franzose auch: „Wenn Sie mir unbedingt ein Etikett aufkleben müssen, dann bezeichnen Sie mich meinetwegen als ‘rechten Linken’ oder auch als jemanden, der bisweilen linke Ideen und rechte Werte kombiniert.“ Doch der Herausgeber der französischen Zeitschriften Nouvelle École, Éléments und Krisis referiert Tatsachen: Die Finanzkrise ist für ihn vor allem eine Folge der Auflösung des nach Henry Ford benannten Fordismus, der früher die Löhne und Gehälter angemessen erhöhte, um die massenweise gefertigten Produkte auch an die Produzenten absetzen zu können.

Von diesem Kapitalismus habe man sich verabschiedet. Im Zuge der Globalisierung wurden ganze Produktionen in Billiglohnländer ausgelagert, mit der Folge, daß die Realeinkommen in der westlichen Welt sinken, prekäre Beschäftigungsverhältnisse entstünden und die Arbeitslosigkeit steige. Allerdings betrifft dieses bislang die USA oder Frankreich viel stärker als Deutschland, doch Benoist argumentiert aus französischer Perspektive. Um dennoch die Produkte absetzen zu können, habe der westliche Kapitalismus seit den achtziger Jahren eine vermeintliche Lösung parat: den Kredit. Bei der Buchvorstellung nannte Benoist dramatische Zahlen für Frankreich: Die Verschuldung steige jährlich um 100 Milliarden Euro, der Schuldendienst sei inzwischen der größte Etatposten – und in diesen Zahlen sind die Verpflichtungen, die Frankreich im Zuge der sogenannten „Euro-Rettung“ eingegangen ist, noch gar nicht eingerechnet.

Durch massive Kreditvergabe hätten die westlichen Länder dem Konsum als Wachstumsmotor den Vorrang gegeben, so Benoist. Die Verschuldung füllte die Kaufkraftlücke, das Konsumieren konnte weitergehen. Doch irgendwann müssen die Kredite zurückgezahlt werden – und das sei nicht möglich: erst recht nicht, wenn die Einkommen stagnieren oder gar zurückgehen. Dies sei denn auch ein Hauptauslöser für die Krise vom Herbst 2008 gewesen: In den USA habe 2008 der Konsum mit 73 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) noch nie dagewesene Dimensionen erreicht, die Sparquote habe dagegen bei Null gelegen – doch die durchschnittliche Verschuldung der Privathaushalte habe 120 Prozent betragen.

Das betreffe aber nicht nur die USA, sondern ebenso die EU-Staaten. Auch hier seien die Staatshaushalte verschuldet, weil durch die Abwanderung von Industrie, aber auch Kapital Steuern, also Einnahmen, verlorengingen – gleichzeitig stiegen jedoch die Ausgaben: So betrage die Schuldenlast der Länder der Euro-Zone mittlerweile über 80 Prozent des BIP. Sie hätten damit ein höheres Verschuldungsniveau, als es die entwickelten Länder nach dem Ende des Ersten Weltkrieges oder nach der Rezession der dreißiger Jahre gehabt hätten.

Der Euro verschärfe die Situation, so Benoist in der Fragerunde. Griechenland sei erst der Anfang, auch Spanien oder Italien würden durch das System der Schulden in „eine neue Form der Leibeigenschaft“ geraten. Der Euro sollte Europa zusammenführen, doch jetzt treibe der Euro die EU auseinander. Der Euro-Fiskalpakt verletzte die Souveränität der Staaten, warnte Benoist. Und auch unter einem Präsidenten François Hollande werde sich die französische Euro-Politik nicht grundlegend ändern – und sogar den Finanzakteuren der Londoner City habe der Sozialist schon versprochen: „Ihr habt nichts zu befürchten!“

Die Schuldenlasten haben für Benoist ihre Hauptursache in dem Schleifen von Zollgrenzen, Steuersenkungen insbesondere für Großkonzerne und Steuergeschenken für die Superreichen. Der steigende Einfluß der Finanzindustrie habe zudem eine Deregulierung der Finanzmärkte ermöglicht, die wiederum die Explosion der Gewinne aus reinen Spekulationsgeschäften ermöglicht. Damit wurde der produktiven Sphäre das Kapital entzogen, so Benoist. Man verdiene heute mehr mit Spekulation als mit Produktion – was angesichts der Einkommensunterschiede zwischen Vorständen der „Realwirtschaft“ und Investmentbankern kaum zu leugnen ist.

Verteidigern des kapitalistischen Systems hält Benoist entgegen, daß das funktionierende System des 20. Jahrhunderts transformiert sei in einen „Kapitalismus des dritten Typs“ – einen „Turbokapitalismus“, der die „Verwurzelung in der Nation“ verloren habe. Unter Bezug auf Adam Smith sagte Benoist: „Der Markt hat kein Vaterland, das Vaterland ist da, wo der meiste Profit ist.“ Der extrem schnelle Kapitalverkehr befördere die „Delokalisierung“ und die „Entortung des Systems“. Dies führe zur „Entwertung der Mittelklasse“, so Benoist in Berlin.

Klare Worte fand er daher auch zum Dauerthema Zuwanderung. Nicht nur Linke seien für Einwanderung, sondern vor allem die Arbeitgeber hätten stets mehr Einwanderung zur Rekrutierung billiger Arbeitskräfte befürwortet: „Dank dieser Reservearmee des Kapitals lassen sich auch die Löhne und Gehälter einheimischer Arbeitskräfte auf niedrigstem Niveau halten“, so Benoist. Es sei lächerlich, daß die Linke den Kapitalismus kritisiere und gleichzeitig aber den Kosmopolitismus mit ihm teile: „Für den privaten Wirtschaftssektor mag die Einwanderung mehr Gewinn einbringen, als sie ihn kostet. Im öffentlichen Sektor hingegen liegen die sozialen Kosten weit höher als ein wie auch immer gearteter Nutzen“, erläuterte Benoist zum Abschluß der Diskussionsrunde.

Bibliographie von Alain de Benoist: www.alaindebenoist.com Bibliothek des Konservatismus www.bibliothek.fkbf.de

Alain de Benoist: Am Rande des Abgrunds – Eine Kritik der Herrschaft des Geldes. Edition JF, Berlin 2012, 182 Seiten, gebunden, 19,90 Euro

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