© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/12 04. Mai 2012

Kesseltreiben gegen Humboldt: Destruierter Nationalmythos
Wirkungsmacht der Leitidee
(ob)

Zeitgleich mit dem Beginn der europäischen Hochschulreform („Bologna“) begann 1999 in der Bundesrepublik die „Dekonstruktion“ des „Mythos Humboldt“, der bis auf die Gründung der Berliner Universität (1810) zurückreichenden Tradition von Forschung und Lehre. Man entdeckte, daß sich niemand im 19. Jahrhundert auf Wilhelm von Humboldt (1767–1835) berufen habe, schlicht deshalb, weil seine nie gedruckten Reformkonzepte erst 1900 veröffentlicht wurden. Humboldts Universitätsmodell gehöre mithin zu den „wirkungsmächtigsten deutschen Nationalmythen“ erst des 20. Jahrhunderts. Dem US-Historiker Konrad Jarausch fiel darum 1999 die Forderung leicht, die „Fesseln des Humboldt-Syndroms zu sprengen“ und „überfällige Reformen“ einzuklagen, um deutsche Hochschulen an „frische demokratische und soziale Visionen“ zu gewöhnen. Humboldt repräsentierte für den Alt-68er Jarausch den Geist der „antidemokratischen Ordinarienuniversität“. Martin Eichler erinnert im kritischen Rückblick auf diese Debatte daran (Historische Zeitschrift, 294-2012), daß die sehr späte Identifizierung der preußischen Bildungsreform mit der Person Humboldts nichts an der Wirkungsmacht der Leitideen ändere, die eine Reduktion von Universitäten auf Fachschulen und eine praxisrelevante „oberflächliche Dressur“ der Studenten zu Lasten der Allgemeinbildung ausschlossen.

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