© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/12 04. Mai 2012

Auf Heldensuche
Cosplayer: Wenn sich Jugendliche verkleiden, als stammten sie aus einem japanischen Trickfilm
Nils Wegner

Nicht nur auf den beiden jährlichen bundesdeutschen Buchmessen in Frankfurt und Leipzig kann man sie geballt bestaunen: Cosplayer (von engl. costume play = „Kostüm-Spiel“), die sich als ihre Lieblingsfiguren aus (zumeist) japanischen Manga-Comics und Anime-Zeichentrickfilmen verkleidenden jungen Leute, treffen sich auch auf zahlreichen speziell für sie organisierten „Conventions“. Außerdem bilden sie und die für sie abgehaltenen Kostüm- und Schauspielwettbewerbe eine zentrale Institution auf den großen deutschen Manga-Messen, wie der „AnimagiC“ in Bonn.

Für viele Nicht-Szenegänger ist es mehr als verblüffend, daß so viele Jugendliche vom Mittelschulalter aufwärts Unmengen an Zeit, Geld und Mühe investieren, um irgendwelchen weitgehend unbekannten Zeichentrickfiguren möglichst nahe zu kommen. Dabei geht es um zweierlei: Einerseits die tatsächliche Kunst der Schauspielerei, denn die Performance eines Cosplayers wird stets daran gemessen, inwieweit er in der Lage ist, bis in Gestik und Mimik hinein „in character“ – also vorbildgetreu – zu agieren.

So wird denn auch bei nachgestellten Szenen oder in der persönlichen Begegnung vielfach auf die sehr blumige und bildhafte Sprache der entsprechenden Hefte und Filmchen zurückgegriffen; daß die deutschen Übersetzungen der stark von Metaphern durchwobenen japanischen Sprache nie ganz gerecht werden, läßt solcherlei Daherreden oftmals unfreiwillig grotesk wirken.

Darüber hinaus ist es ein ungeschriebenes Gesetz der Szene, daß die zumeist sehr aufwendigen Staffagen sowie Perücken und sonstiges Zubehör selbst anzufertigen sind. Dementsprechend finden sich in den dazugehörigen Internetforen, deren größtes zum gemeinnützigen Verein „Animexx“ gehört, zahllose Diskussionen und Ratschläge zu Bastelarbeiten und Handarbeitsthemen. So ist es denn auch verständlich, daß viele Cosplayer mit Unverständnis und Enttäuschung reagieren, wenn sie mit ihren mühevoll zusammengebauten (und zumeist ulkig überdimensionierten) Schauwaffen nicht auf das Messegelände vorgelassen werden.

Natürlich sorgen diese „speziell interessierten“ Personengrüppchen beim üblichen Messepublikum, das eher an Büchern interessiert ist, für einiges Befremden. Nicht nur durch ihr teilweise erratisches Verhalten, wozu auch betont kindisches Umherspringen und Kreischen gehören, und das Hinterlassen absurder Mengen an Müll, sondern auch aufgrund in der japanischen Ursprungssubkultur begründeter Skurrilitäten: So braucht man sich durchaus nicht zu wundern, wenn man plötzlich einem unrasierten Endzwanziger in Schulmädchenuniform gegenübersteht.

Auch sind in Cosplayer-Kreisen die Manga-Subgenres „Shōnen Ai“ und „Yaoi“ überproportional beliebt – Spielarten der üblichen Liebesgeschichten androgyn wirkender Männer, die insbesondere bei weiblichen Lesern großen Anklang finden. Generell scheint Cosplay ein vorrangig weibliches Phänomen zu sein; dabei ist es durchaus auch nicht unüblich, daß junge Mädchen männliche Figuren spielen. Wenn man sich dazu die Oberweite abbinden muß, dann ist das eben so.

Über die Gründe für die Neigung westlicher Jugendlicher zu diesen vielfach bizarren Aufmachungen läßt sich trefflich spekulieren. Reine Selbstdarstellung, wie bei den eher lieblosen „Halloween“-Kostümen, dürfte wohl nicht dahinterstecken. Deutlich plausibler, wenngleich auch wohl kaum einem Cosplayer selbst bewußt, scheint eine sublime Sehnsucht nach Metaphysik zu sein. Ein Großteil der Mangas und Animes ist sehr stark an volkstümliche Märchen und religiöse Themen rückgebunden: Wo in US-Comics Superhelden durch nukleare Verseuchung entstehen oder aus dem All kommen, führen in Mangas wie „X 1999“ oder „Neon Genesis Evangelion“ Geister, Engel und Dämonen ihr ewiges Ringen gegeneinander. Eine vergleichbar geschmeidige Synthese aus Spiritualität und Popkultur hat Europa schlichtweg nicht zu bieten – Mittelaltermärkte und „Live Action“-Rollenspiele mit Elfen und Orks sind hinsichtlich der Komplexität des dahinterstehenden Phantasiekosmos mit Cosplay kaum zu vergleichen.

Offenbar gibt es eben doch einen menschlichen Drang, sich am Mythischen, also der Übersetzung der unbegreiflichen Umwelt ins Transzendent-Metaphysische, aufzurichten. Die europäische Kulturgemeinschaft wie auch die deutsche Nationalkultur, der man mit Arnold Gehlen längst jegliches „Mark aus den Knochen geblasen“ hat, vermag jedoch nicht mehr, solches anzubieten. Und so muß man „in die Ferne schweifen“, wenn die Leere liegt so nah.

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