© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/12 11. Mai 2012

Warten auf das blaue Wunder
Blaue Karte: Die EU schreibt vereinfachte Bleiberegeln für ausländische Fachkräfte vor / Deutschland übererfüllt die Vorgabe aus Brüssel
Sverre Schacht

Die Europäische Union drängt seit 2009 auf einheitliche Zugangsbedingungen für hochqualifizierte Naturwissenschaftler, Mathematiker, Ingenieure, Ärzte und IT-Fachkräfte aus Nicht-EU-Staaten. Deutschlands schwarz-gelbe Bundesregierung setzt die Vorgabe zur Zuwanderungsförderung seit Ende April mit der Blauen Karte, dem Gegenstück zu Europas Blue Card, relativ spät um. Ein regelrechter Schlagabtausch mit der Opposition begleitet seither den Beschluß: Den Grünen, der SPD und der Linkspartei gehen die gelockerten Zugangsbeschränkungen für qualifizierte ausländische Arbeitnehmer nicht weit genug, zugleich kritisieren sie die neuen, für den Zuzug maßgeblichen Lohngrenzen als zu niedrig.

„Ein sehr großer Wurf“ sei das neue Gesetz zur Blauen Karte, lobte hingegen das Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, Heinrich Alt, den Regierungsbeschluß. Der muß am 11. Mai noch vom Bundesrat abgesegnet werden. Die Zustimmung gilt dort als relativ sicher, lobte die föderale Instanz doch das Projekt bereits, kündigte jedoch Nachbesserungen an. Sie gehen über das hinaus, was Berlin will. Auch die EU senkt mit ihren Vorgaben zur Blue Card Schranken der Zuwanderung, selbst wenn sie ihre Vorschrift erleichterten Zugangs für Hochqualifizierte von politisch wie wirtschaftlich motivierten Flüchtlingen ausdrücklich getrennt sieht.

Die EU begründet ihre Vorgabe einerseits mit dem Ziel, die Gemeinschaft zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, der Strategie „Europa 2020“. Das zweite Argument: Die Blue Card soll die Abwanderung qualifizierter Kräfte verhindern. So entstand die Richtlinie 2009/50/EG.

Die Denkfabrik Bruegel, die unter Vorsitz von Europas langjährigem Zentralbankchef Jean Claude Trichet in Brüssel rund 30 Mitarbeiter beschäftigt, ist Urheber der EU-Vorgabe. Die Einrichtung rangiert laut inoffizieller Rangliste an weltweit dritter Stelle der großen wirtschaftsnahen Ideengeber der Politik und finanziert sich unter anderem durch die Mitgliedschaft von EU-Staaten. Die Institution arbeitet unter anderem eng mit US-Wirtschaftsforschungsinstituten zusammen. Von der sogenannten Greencard, mit der die USA den Aufenthalt gefragter Arbeitsmigranten steuert, ließ sich Bruegel zur Blue Card anregen.

Die dabei formulierten Ziele bilden nun die Grundlage der deutschen Blauen Karte. Sie unterbietet die von der EU vorgegeben Gehaltsuntergrenzen für qualifizierte Arbeitsuchende aus dem EU-Ausland allerdings noch, wie die SPD kritisiert: „Die SPD will qualifizierte Zuwanderung, aber sie will kein Lohndumping“, so die Sozialdemokratin Daniela Kolbe.

Laut EU-Richtlinie muß die Gehaltshöhe dem 1,5- beziehungsweise dem 1,2fachen des durchschnittlichen Bruttojahresgehalts des betreffenden Mitgliedsstaates entsprechen. Die Bundesregierung führt tiefere Grenzen ein: Galten in Deutschland bisher 66.000 Euro Jahreseinkommen als Untergrenze für den Qualifiziertenzuzug, brauchen EU-Fremde nur noch einen Arbeitsvertrag mit einem deutschen Arbeitgeber vorlegen, in dem mindestens 44.800 Euro Jahresgehalt (brutto) vereinbart sind, außerdem einen Hochschulabschluß oder fünf Jahre Berufserfahrung. Der durchschnittliche deutsche Vollzeitbeschäftigte verdient laut Statistischem Bundesamt 43.929 Euro (4. Quartal 2011).

Das hat Folgen, wie die Opposition befürchtet. Dänemark, Großbritannien und Irland nehmen gar nicht erst an der Blue Card teil. Für Deutschland verkündete die CDU indes einen erweiterten Ansatz. Dieser erlaubt es, früher eine dauerhafte Niederlassungserlaubnis zu erhalten. Nach drei, bei guten Sprachkenntnissen auch zwei Jahren dürfen sich Inhaber der blauen Karte dauerhaft in Deutschland niederlassen.

„Wir prämieren es, wenn man Deutsch lernt. Wer ja sagt zu unserem Land, wer sich selbst um die Integration bemüht, der bekommt auch schneller einen verfestigten Aufenthaltsstatus – das ist kluge Integrationspolitik“, sagte CDU-Politiker Reinhard Grindel bei Verabschiedung der Blauen Karte am 27. April. Laut Kolbe hingegen ist die nur in Deutschland derart abgesenkte Gehaltsschwelle „europarechtswidrig niedrig und auch arbeitsmarktpolitisch zu niedrig“. Selbst für Ingenieure, Physiker und Mathematiker, die erst am Anfang ihres Berufslebens stünden, seien gut 35.000 Euro Jahresgehalt nicht angemessen. Laut deutscher Umsetzung stehen nämlich Branchen, in denen die Politik Fachkräftemangel feststellt, ausländischen Fachkräften schon ab 34.944 Euro Jahreseinkommen offen.

Die Blaue Karte steuert so gleich drei Dinge auf einmal an: Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler zielt darauf, „den Fachkräftebedarf für die Zukunft zu sichern“. Zweitens gilt für das Gesetz: „Es macht den Weg frei für den Einstieg in ein kriterienbasiertes, am Fachkräftebedarf des deutschen Arbeitsmarktes ausgerichtetes Zuwanderungsrecht“, so der Minister weiter. Letztlich eröffnet die Regierung einen, laut Rösler, „internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe“ – bei dem Deutschland „künftig deutlich besser aufgestellt“ sein müsse – über vermehrte Zuwanderung aus dem EU-Ausland. Es gelte nun, eine „echte Willkommenskultur“ in Deutschland zu schaffen, so Rösler.

Somit leitet die Politik einen weiteren grundlegenden Wechsel ein: Über eine Hochqualifiziertendebatte soll die in Deutschland laut Umfragen in der Bevölkerung eher kritisch betrachtete Zuwanderung an sich positiv umgewertet werden. Um gut ausgebildete Einwanderer anzulocken, müsse sich vor allem auch das politische und gesellschaftliche Klima ändern, fordert bereits Grünen-Politiker Memet Kılıç: „Grundlagen dafür sind erstens eine sichere aufenthaltsrechtliche Perspektive, zweitens ein einladendes Einbürgerungsrecht und drittens das effektive Eintreten gegen Rassismus.“ Grüne wie Politiker der Linkspartei kritisieren, daß Einwanderer ihr Aufenthaltsrecht gemäß Blauer Karte wieder verlieren, wenn sie innerhalb der ersten drei Jahre Sozialleistungen nutzen.

Der Bestand deutscher Regelungen ist trotz EU-Zusicherung, nationale Vereinbarungen mit Drittstaaten blieben unangetatstet, recht ungewiß: Die EU erklärt nämlich zum Ziel, Fachkräften aus Nicht-EU-Staaten überall in der Gemeinschaft gleiche Aufenthaltsregeln zu verschaffen. Die Blue Card bringt außerdem Niederlassungsfreiheit in der EU mit sich: Stellt ein Land Karten aus, können deren Inhaber nach 18 Monaten rechtmäßigen Aufenthalts in diesem Staat in jedem anderen Mitgliedsstaat dauerhaft arbeiten. So bahnt die EU einer kaum vorhersehbaren Gemeinschaftshaftung den Weg. Zwar darf Deutschland Beschränkungen für bulgarische und rumänische Arbeitnehmer noch bis Ende 2013 aufrechterhalten, so daß eine Arbeitserlaubnis für die Aufnahme einer abhängigen Beschäftigung in Deutschland noch eine kurze Weile erforderlich bleibt, danach erlischt diese Möglichkeit zur Ausnahme dauerhaft.

Wie in diesem Beispiel engt auch der Harmonisierungsdruck aus Brüssel Richtung Blue Card den Handlungsspielraum für Nationalstaaten, Zuwanderung zu steuern, ein. Daß die Politik Druck hinsichtlich weiterer Erleichterungen erfährt, ist ebenfalls kein Geheimnis: Hiesige Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften kämpfen für erleichterten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt.

Doch daß vermeintlicher Fachkräftemangel Zuwanderung nötig mache, so ein Hauptargument deutscher Politiker, ist kaum belegbar. Karl Brenke, Ökonom am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), bezeichnete den von der Politik festgestellten Fachkräftemangel im Oktober als „Fata Morgana“ und sagte im Vorfeld der Entscheidung, bei den geplanten Gesetzesänderungen gehe es offensichtlich nicht darum, einem Mangel an Fachkräften entgegenzuwirken, sondern ausländische Fachkräfte nach Deutschland zu holen, „die bereit sind, zu möglichst billigen Löhnen hier tätig zu werden“.

Dennoch soll die Blaue Karte nicht nur ausländischen Studenten 18 statt bisher 12 Monate zur Jobsuche nach dem Studium in Deutschland bieten oder andere Hochschulabsolventen anlocken, die Bundesregierung will ausdrücklich auch Facharbeiter anwerben.Die Qualität der Ausbildung unterliegt keiner Prüfung. „Wir sagen, du kannst kommen, wenn du einen konkreten Arbeitsplatz in Aussicht hast“, erklärte Bundesinnenminister Friedrich.

Schon im Jahr 2000 hatte die damalige rot-grüne Bundesregierung ein „Sofortprogramm zur Deckung des IT-Fachkräftebedarfs“ eingeführt. Das insgesamt gut 20.000 Zuwanderer anziehende, befristete Programm war weit kleiner ausgelegt als die Blaue Karte, die unbefristet geschätzte 3.500 Zuwanderer im Jahr einbringen könnte. Seit diesem ersten Projekt gilt „Einwanderung wieder als Gewinn“, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung zum zehnjährigen Jubiläum der Idee deren Wirkung wertete. Ein Fachkräftemangel wurde aber nicht behoben: Selbst im Krisenjahr 2009 waren im Schnitt gut 20.000 Stellen der IT-Branche unbesetzt.

 

Streit um Fachkräftemangel

Klagen über einen drohenden Fachkräftemangel infolge des demographischen Wandels werden in Deutschland seit langem erhoben. Sie kommen nicht allein von Arbeitgeberverbänden, auch die Bundesregierung sieht den „zunehmend spürbaren Fachkräftemangel“ (Wirtschaftsminister Rösler, FDP) als gegeben an. Ihm soll mit einer Steigerung des Erwerbsvolumens von Frauen, eines Anstiegs der Vollzeitarbeit sowie Zuwanderung entgegengetreten werden. Im Fokus der Diskussion steht vor allem der Ingenieurbereich. Laut Bundesagentur für Arbeit werden hier bis zum Jahr 2020 „voraussichtlich“ rund 240.000 Ingenieure fehlen. Dem widerspricht Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, der gerade bei Naturwissenschaftlern, Ingenieuren und IT-Fachkräften aufgrund des Zustroms von Studenten eine „Fachkräfteschwemme“ voraussieht. Auch das Bundesinstitut für Berufsbildung rückt in einer aktuellen Studie die Prognosen zurecht. Demnach ist bis 2030 mit einem „leichten konstanten Überangebot an akademisch Ausgebildeten bei zeitgleich zunehmenden Engpässen bei Fachkräften mit mittleren Bildungsabschlüssen“ zu rechnen. Zudem erwartet es eine „Milderung der Engpässe in akademischen Berufen und solchen mit hohen eigenen Ausbildungsanteilen“. Eine „hohe Arbeitsmarktanspannung“ sei dagegen „im Bereich der Gesundheitsberufe“ zu erwarten.

Foto: Nutznießer der Blauen Karte: Junge Akademiker aus Nicht-EU-Ländern sollen sogenannten „Fachkräftemangel“ beheben

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