© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/12 11. Mai 2012

Indiskretion als Methode
Literaturhistorie: Zum 150. Geburtstag des österreichischen Erzählers Arthur Schnitzler
Sebastian Hennig

Die Humanmediziner balancieren auf dem schmalen Grat zwischen der belebten Anmut und unausweichlicher Verwesung. Zu tiefe Einblicke in das, was die Körperwelt im Innersten zusammenhält, werden dem Seelenfrieden gefährlich. Darüber hilft die Beschäftigung mit schönen und bedeutenden Dingen hinweg.

Manche Ärzte haben ihre künstlerische Betätigung dauerhaft etabliert. Der Lyriker und Essayist Gottfried Benn gehört dazu ebenso wie der am 15. Mai 1862 geborene Wiener Erzähler und Dramatiker Arthur Schnitzler. Dessen Vater war ein Spezialist für Kehlkopf-erkrankungen und förderte vorsichtig die musischen Neigungen des Sohnes, erstrebte aber für den Sohn eine Verbindung des Angenehmen mit dem Nützlichen. Der sollte Medizinjournalismus für die vom Vater gegründete Internationale klinische Rundschau betreiben. Als dessen Assistent arbeitete Arthur Schnitzler zunächst und gab dessen „Klinischen Atlas der Laryngologie“ mit heraus.

Nach dem Tod des Vaters gründete er eine eigene Praxis. Er fand Berührungen zu Sigmund Freuds Psychoanalyse, setzte Hypnose und Suggestion experimentell zur Heilung ein, wovon auch seine einzige medizinische Fachpublikation handelt. 25 Jahre nach Erscheinen von Freuds „Die Traumdeutung“ veröffentlicht Schnitzler die „Traumnovelle“, die am Ende des Jahrhunderts von Stanley Kubrick verfilmt wurde.

Schnitzlers literarische Veröffentlichungen begannen 1880 bezeichnenderweise mit dem „Liebeslied der Ballerine“. Eine kurze enge Beziehung zur Schauspielerin Adele Sandrock regte ihn an. 1893 spielte sie in der Uraufführung seines ersten Schauspiels „Das Märchen“. So weit ihr Lebensweg sich auch voneinander entfernte, so ist ihr Schicksal doch ähnlich. Die Sandrock erlebt einen späten Erfolg als komische Alte im Film, und Schnitzlers Präsenz auf den Bühnen kam im Weltkrieg zum Erliegen.

Literatur kommt aus Beobachtung. Und so ist das Frühbeet des Schriftstellers bestimmt in den Tagebüchern zu finden, die er seit der Jugendzeit gewissenhaft führte. Die Anzucht mancher zwischen den aufgezeichneten Zeilen mitgenommenen Eingebung führte zu späteren Erzählungen und Dramen.

Als Selbstgespräch eines gelangweilten Konzertbesuchers ist die Erzählung „Leutnant Gustl“ verfaßt. Sie beginnt: „Wie lang’ wird denn das noch dauern? Ich muß auf die Uhr schauen ... schickt sich wahrscheinlich nicht in einem so ernsten Konzert.“ Ein Bäckermeister beleidigte den Leutnant, und da an ein Duell nicht zu denken ist, erwägt er den Selbstmord, bis er zufällig erfährt, daß der Ehrabschneider inzwischen vom Schlag gefällt wurde. Indiskretion als Kunstform.

Diese Kolportage des unaussprechlichen inneren Monologs führte dazu, daß dem Autor der Offiziersrang als Oberarzt der Reserve aberkannt wurde. Weit schlimmer wirkte sich der Entzug seiner Motive aus, die durch den Untergang des Milieus 1918 entstand. Die Aufmerksamkeit auf seine literarische Produktion ging sofort merklich zurück. Der Verlust der Bindekraft von Monarchie und patriarchalischer Ordnung ließ das gelegentliche persönliche Ressentiment gegen das Judentum zu einem Antisemitismus als esoterischer Bewegung anwachsen. An die Stelle des Gottesgnadentums des Hauses Habsburg rückte die Unheilslegende vom Dämon einer Universalschuld des Juden.

Die Entwicklung dahin begleitet Schnitzler mit seinem ersten Roman „Der Weg ins Freie“ und dem Drama „Professor Bernhardi“. Letzteres wurde 1912 verboten und der k. u. k. Innenminister begründete das mit „vielfacher Entstellung hierländischer Zustände.“ Es handelt von einem jüdischen Mediziner, der einem Geistlichen den Zutritt zu einer sterbenden Patientin verwehrt, weil er diese in Ruhe und unbewußt ihres Zustandes entschlafen lassen möchte.

Das tiefe ethische Problem der Zuständigkeitsanmaßung von zwei verschiedenen Standpunkten aus wird zur Folie für eine Darstellung kurzatmiger Intrigen. An den erotischen Possen Schnitzlers berührt inzwischen weniger die derbe Offenheit als die habsburgisch-wienerische Stimmung. Er hat es wohl selbst gewußt. Denn zum Episodenstück „Reigen“ meinte er einmal, daß es „literarisch nicht viel heißt, aber, nach ein paar hundert Jahren ausgegraben, einen Teil unserer Kultur eigentümlich beleuchten würde.“ Arthur Schnitzler starb am 21. Oktober 1931 in seiner Heimatstadt an einer Hirnblutung.

Nach dem Anschluß Österreichs drückte die britische Botschaft ihr Siegel auf die Räume mit dem literarischen Nachlaß, die so von der Hausdurchsuchung verschont blieben. Die Papiere wurden schließlich in die Universitätsbibliothek nach Cambridge überführt. Die privaten Dinge gelangten dagegen heim ins Reich der literaturwissenschaftlichen Überhöhung und lagern im Literaturarchiv in Marbach am Neckar.

Allen Werken Schnitzlers ist etwas Inkonsistentes, bis zum Durchsichtigen und zum Zerreißen Ausgewalztes eigen. Diese wenig künstlerisch griffige Art des Gesellschaftsdramas wiederholte sich ein halbes Jahrhundert danach in den Stücken von Edward Albee, John Osborn, Harold Pinter und Arnold Wesker. Die Mächte, an denen diese und das „Junge Wien“ sich abkämpften, gibt es nur noch insgeheim, aber nicht mehr als vorherrschende Gewalt: Kaiser, König, Ehre und Familie. Nicht viel anders verhält es sich mit dem Eros.

Diese ehemals werten Dinge sind von der Scheinheiligkeit, die sie in der Zeit ihres Untergangs umhüllte in die Heiligkeit stummer hilfloser Relikte übergangen. Das Puppentheater der Gesellschaft, die es nicht mehr gibt, läßt sich heute nach Belieben mit unserer Nachbedeutung auffüllen.

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