© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/12 11. Mai 2012

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Das Schiff der Piraten ist nicht im „shit storm“ gekentert. Tatsächlich funktioniert das „Anbräunen“ bei der Linken nie. Man erinnere sich nur der von einer noch kämpferischen Union gemachten Vorstöße, um den „demokratischen Sozialismus“ der SPD in die Nähe des „nationalen Sozialismus“ der NSDAP zu rücken, oder der Versuche von dieser Seite, die Grünen auf den Faschismus als „Bewegung“ und den Blut-und-Boden-Kult der Völkischen zurückzuführen. In Denunziation muß man geübt und hinreichend skrupellos sein und ein Sendungsbewußtsein haben, über das Bürgerliche praktisch nie verfügen.

Der Streit um die totale Kitaversorgung wie um das Emanzipationsverständnis der Bundesfrauenministerin krankt daran, daß die Beteiligten eine Debatte führen, bei der es immer nur um Varianten des „Rollenverständnisses“ geht. Dabei hat sich der Begriff „Rolle“ zur Deutung gesellschaftlicher Phänomene so weit durchgesetzt, daß das dahinterstehende Konzept vergessen ist. Jeder scheint sein soziales Agieren als das eines Mimen zu verstehen, der an seinem Leben nur als Schauspiel teilhat, aber genausogut ein anderes Engagement in einem anderen Stück übernehmen könnte, während er Mensch erst ist, sobald die Scheinwerfer ausgehen und man die Schminke abwischen darf. Dieser Entwurf humaner Existenz hat nicht erst mit dem Konstruktivismus/Dekonstruktivismus seinen Siegeszug angetreten, sondern hängt eng zusammen mit der Menge ganz verschiedener Deutungsmöglichkeiten, die sich in der Moderne etabliert und zu immer neuen Entfremdungswahrnehmungen geführt haben, und man wird ihm nur begegnen können, wenn man einen Begriff der menschlichen Natur zurückgewinnt.

Schon bei oberflächlicher Betrachtung der Bauhausarchitektur wird einem klar, daß hier – allen Beteuerungen zum Trotz – nicht die Form der Funktion gefolgt ist. Vielmehr war es regelmäßig umgekehrt, nahm man alle möglichen Dysfunktionen in Kauf, wenn nur die Form dem angestrebten Ideal entsprach. Insofern hat auch da kein qualitativer Sprung in der Ästhetik stattgefunden. Allerdings imponiert die Energie, mit der Rückschläge überwunden und Fehler korrigiert wurden, der Ansatz war ein ungeheurer Ansporn für die Entwicklung neuer Produkte und Techniken.

Es macht sich auch bei denen, die die Piratenpartei hochgeschrieben haben, allmählich Ungeduld bemerkbar. Man möchte gern wissen, wohin die Reise geht. Allerdings ist mit mehr Klarheit kaum zu rechnen. Das hat dieses Projekt mit anderen postpolitischen Bewegungen – Attac oder Occupy – gemeinsam oder dem Prototyp, der APPD, man erinnere sich: der Anarchistischen Pogo-Partei Deutschlands, deren Sprache zwar gröber, deren Zielsetzung aber ähnlich konfus war.

Bildungsbericht in loser Folge XXIII: Unlängst wies der Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin darauf hin, daß die für PISA verantwortliche OECD seit Anfang der siebziger Jahre bei allen Überprüfungen des deutschen Schulsystems stets dieselben Ergebnisse präsentiere: zu starke Fixierung auf Fächerkanon und Wissen und zu starker Zusammenhang zwischen sozialem Status und Bildungserfolg, zu geringe Durchlässigkeit und zu geringe Abiturientenzahlen. Dieser von unserer Seite stets willig akzeptierten Generalkritik kontrastiere allerdings, so Ladenthin, merkwürdig der Tatbestand, daß die Bundesrepublik zu den wirtschaftlich erfolgreichsten Nationen weltweit mit der geringsten Jugend- und Akademikerarbeitslosigkeit gehöre. Nun ist der an sich schon sehr aufschlußreiche Befund ergänzt worden durch die Wortmeldung einer der ersten Testteilnehmerinnen, die berichtet, man habe ihr von seiten der OECD einige Jahre später mitgeteilt, daß die Ergebnisse keinerlei prognostischen Wert in bezug auf den späteren beruflichen oder Studienerfolg der Probanden gehabt hätten.

Man kann die ideologische Fixierung des Wahlkampfs in Frankreich natürlich anachronistisch finden: eine radikale Linke, die sich auf Robespierre beruft und die gemäßigte des Reformismus zeiht; das ganze Lager, das in Sarkozy den Vertreter eines Faschismus auf Samtpfötchen sieht und in Madame Le Pen den Gottseibeiuns; der Amtsinhaber, der vorgibt, stalinistische Verhältnisse für den Fall des Siegs von Hollande zu befürchten und die Anhänger des Front National demonstrativ umwirbt, und schließlich dessen Chefin, die auf Äquidistanz achtet, aber in ihrer auf Professionalität und Unanstößigkeit zielenden Propaganda doch immer wieder das Leitmotiv „die Nation“ gegen „die Republik“ anklingen läßt. Vielleicht sind das alles aber gar keine Reprisen. Vielleicht ist Frankreich nur ein weiteres Mal das politische Laboratorium Europas und zeigt sich an der Entgegensetzung von „Nation“ und „Republik“, was auf die Tagesordnung kommen wird, wenn die postpolitischen Träume ausgeträumt sind.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 25. Mai in der JF-Ausgabe 22/12.

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