© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/12 11. Mai 2012

„Wir haben nicht mal eine eigene Sprache“
Interview mit dem Regie-Guerillero Klaus Lemke über die Krise des deutschen Films und seinen jüngsten Kinofilm „Berlin für Helden“
Christian Dorn

Weg mit dem deutschen Qualitätskino!“ – unter diesem Motto kritisierte der Regisseur Dominik Graf jüngst das deutsche Filmschaffen, vor dem ihm graue. In der Zeit attestierte Graf dem deutschen Film, dieser erscheine „trotz seines stetig zunehmenden formalen Könnens“ in der Masse „wie eine Palette von Besinnungsaufsätzen“. Zwar habe der deutsche Heimatfilm in den Fünfzigern auch gelogen, doch sei diese Lüge „ehrlicher“ gewesen als die heutigen Produktionen, die der Political Correctness zuarbeiteten. Darin verkörpere sich „der Selbstbetrug einer Gesellschaft – inklusive ihrer Künstler –, die ein (...) zu Tode gentrifiziertes Land partout ins neue globale ‘Gute’ hinüberretten möchte, inklusive Frauenquote“ und „Nichtraucher-Verordnung“.

Mit Blick auf den diesjährigen Deutschen Filmpreis bilanzierte Graf das „Dilemma der Subventionskulturindustrie: die Aushöhlung durch thematische Überstrapazierung“. Dabei berief er sich auf den legendären Regie-Guerillero Klaus Lemke, der das deutsche Kino seit Jahren als ein „Millionengrab“ für „subventionierte Filmfolklore“ betrachtet. Vor der Unterhaltung schrecke der deutsche Gegenwartsfilm mit seiner selbstgewählten Seriosität indes zurück. Das aber widerspreche der „Sehnsucht nach Spektakel, nach brüllendem Gelächter, nach Jahrmarkts-Schmock“, die für ein lebendiges Kino essentiell seien. Es fehlten die trivialeren Formen des deutschen Kinos.

Auch damit rekurrierte Graf auf den Filmemacher Klaus Lemke, der vor zwei Jahren in seinem Aufruf „Papas Staatskino ist tot!“ das Erbe des Oberhausener Manifests angegriffen hatte, das dieser Tage sein fünfzigjähriges Jubiläum feierte. Für Lemke nicht nachvollziehbar, denn „13 Jahre Staatskino unter Adolf und die letzten 40 Jahre staatlicher Filmförderung“ hätten dazu geführt, „daß der deutsche Film schon in den siebziger Jahren auf Klassenfahrt in der Toskana hängenblieb“. Deutsche Filme seien heute „wie Grabsteine: Brav. Banal. Begütigend. Goethe-Institut.“ Doch auch inhaltlich scheint Lemke dem Prototyp des von Dominik Graf skizzierten deutschen Unterhaltungskinos zu entsprechen, wenn er diesem „eine provozierende Unbeschwertheit“ zuschreibt.

Seit den siebziger Jahren sind die Filme Lemkes, des „ewigen Freibeuters des deutschen Kinos“ (Berliner Zeitung), „Lowest-Budget“-Produktionen, ohne staatliches Geld, ohne professionelle Schauspieler und ohne Drehbuch. Die dadurch gewonnene Authentizität seiner Kiezkomödien und Milieustudien – insbesondere in der ungeschliffenen Alltagssprache – machten beispielsweise „Rocker“ (1972) zu einem Kultfilm. Zu den Schauspieler-Entdeckungen, die sich mit dem Namen Lemke verbinden, zählen unter anderem Iris Berben, Cleo Kretschmer, Wolfgang Fierek oder Thomas Kretschmann. Die neueste von Lemke entdeckte Femme fatale, Saralisa Volm, spielt auch im aktuellen Film „Berlin für Helden“, der – nach Berlin und Hamburg – am 10. Mai in München anläuft. Die JUNGE FREIHEIT hat mit Klaus Lemke gesprochen.

 

Herr Lemke, in Ihren Filmen scheint die (Aus-)Flucht ein wiederkehrendes Leitmotiv zu sein. Inwiefern ist dies ein Kindheitsmuster aus Ihrer Biographie? Haben Sie noch persönliche Erinnerungen an die Vertreibung?

Lemke: Wir sind damals von Landsberg nach Gera in Thüringen geflohen. Ich erinnere mich an das Geräusch der englischen Bomber, die näher kamen, während wir durch Gera in den Luftschutzkeller rannten, und an die deutschen Flaks – wie in dem Film von Fritz Lang, das wußte ich damals natürlich nicht. Die Engländer haben unzählige Stanniolstreifen abgeworfen, so daß die Flaks die Maschinen nicht ins Visier nehmen konnten. Ich hab’ auch miterlebt, wie Dresden bombardiert wurde. Wir waren der Flüchtlingszug, der nicht mehr in die Stadt reindurfte. Zum Glück, sonst wäre es für uns nicht weitergegangen – die haben ja alles wegbombardiert. Wir sind dann aus der Ostzone unter gefährlichen Umständen mit meiner Mutter – mein Vater war in einem Internierungslager – rüber in den Westen nach Düsseldorf, und von dort bin ich nach Amerika geflohen. Insofern ist die Flucht vielleicht ein tieferliegendes Motiv. Ich fühle mich ja nirgendwo beheimatet, ich kann kinderleicht morgen früh in einer ganz anderen Welt leben.

Laut taz sind Sie ein „Kulturinfarkt“-Aktivist. Zugleich wird Ihnen dort implizit unterstellt, rassistische Stereotype zu bedienen. Ist die politische Korrektheit im deutschen Film von heute eine Folge staatlicher Filmfinanzierung?

Lemke: Filmförderung aus Steuermitteln erscheint mir so effektiv wie das Schwarzfahren gegen den Hunger in der Welt. Doch die politische Korrektheit ist ein rein journalistisches Phänomen. Hier in dieser Stadt ist nicht ein einziger politisch korrekt – zumindest habe ich noch niemanden getroffen. Anders TV-Serien, wo das Thema sexueller Mißbrauch mißbraucht wird, weil es ein gutes Motiv hergibt. Das wird dermaßen überzogen, daß es wohl noch zu einem Massentrauma wird, an dessen Ende alle Leute in der Bundesrepublik glauben, sie seien irgendwann vergewaltigt worden. Man darf diese Problematik zwar auf keinen Fall verharmlosen, aber wenn jeder zweite Film seine Personen so erklärt, dann ist das eine Verharmlosung. Grundsätzlich finde ich, daß man hier noch sagen darf, was man will – aber nicht so wie in Amerika. Hierzulande darf man den Leuten auch vollkommen falsche Motive unterschieben.

Bekanntlich leiden Sie unter dem Deutsch in den deutschen Filmen, das immer so klinge, „als wären drei Kondome drüber“. Wie hört sich ein „unverhütetes“ Kino an?

Lemke: So wie aktuell in „Berlin für Helden“ oder wie in „Rocker“, da wurde zum ersten Mal Deutsch geredet. Nicht die gewohnte Philosophensprache, sondern Deutsch als Arbeitssprache, so wie Rocker sich verständigen müssen: über ihre Maschinen, über die Polizei – eine Sprache, die einen Arbeitssinn hat wie im Amerikanischen. Ganz Deutschland redet aber noch wie vor 200 Jahren. Dabei sind wir der Postmoderne zwanzig Jahre hinterher. Wir haben nicht mal eine eigene Sprache.

Ihre Sätze hingegen sind wie „scharfe Munition“, so der „Tagesspiegel“. 1969 drehten Sie mit „Brandstifter“ den ersten Baader-Meinhof-Film. In den letzten Jahren ist die Figur „Baader“ – mit dem Sie zeitweilig die Unterkunft teilten – wieder zum Thema geworden, etwa im Eichinger-Film. Welche Erinnerung haben Sie an den späteren RAF-Terroristen?

Lemke: Schon mein erster Kurzfilm, „Kleine Front“, war ja mit dem späteren Kaufhausbrandstifter Horst Söhnlein gewesen. Den Baader habe ich kennengelernt in den Off-Kinos, wo diese „merkwürdigen“ amerikanischen Filme liefen, die damals niemand mochte – heute sind John Ford oder Howard Hawks die Klassiker des amerikanischen Kinos. Stattdessen gingen meine Kollegen, die Oberhausener, alle in diese unfaßbar bescheuerten Dissidentenfilme aus Polen und versuchten, die zu kopieren. Die dachten, es gibt gute Kritiken, wenn man so eine Villa in Italien nimmt und mit viel Geld einen Film macht wie in Polen. Das hat nie geklappt und auch nie gute Kritiken gebracht, und es hat die Oberhausener ins Abseits gespielt. Aber Leute wie Baader waren zunächst einmal völlig verrückt, die sind nur ins Kino. Immer wenn ich in einen Film ging mit schnellen Autos, Mädchen, Sex und Schießereien, dann wußte ich, der Baader – der überhaupt kein „Baader“ war zu der Zeit – saß auch da. Wir saßen manchmal zu dritt in einem kleinen Kino in München. Aber ich war da aus anderen Gründen. Ich dachte zunächst, das seien Dokumentarfilme, das sei Amerika im Film. Damals waren das präfaschistische Filme – überall, wo John Wayne mitspielte, das war tabu. Aber kein Tabu war dieser Dissidenten-Unsinn aus dem Osten, der paßte auch besser zur Frankfurter Schule.

Heute diagnostizieren Sie, daß „Papas Staatskino“ tot sei. An welchen Beispielen machen Sie das fest?

Lemke: „Anonymus“ hat gut 17 Millionen Steuergelder gekostet, in den Film ist niemand reingegangen. Dann – wir reden nur von den Großen, in die kleinen geht sowieso niemand – kam „Hotel Lux“ mit etwa sieben bis neun Millionen Euro. Auch da ist kein Mensch reingegangen. Darauf folgte ein kleinerer Film, „Glück“, dafür wurden auch ein paar Millionen verballert, hier blieb das Publikum ebenfalls aus. Schließlich kam noch „Zettl“ – und eigentlich müßte jetzt Schluß sein. Aber diese extreme Steuergeldverschwendung wird gar nicht wahrgenommen, weil es überhaupt keine Rolle spielt, weil wir ein so reiches Land sind, daß wir uns das leisten können. So wird der deutsche Film feudalistisch von oben herab einfach ruiniert, nach dem Motto: Es geht ja sowieso niemand mehr rein. Und weil die Leute Filme machen, die niemand interessiert, existiert der deutsche Film schon von selbst nicht mehr – wenn es nicht Til Schweiger gäbe mit seinen Filmen und früher Bully Herbig. Der deutsche Film existiert also nur, weil Til immer noch um die sechs Millionen Besucher macht. Mit Hochrechnungen wird dann – mindestens schon seit zehn Jahren – immer wieder die Existenz eines deutschen Films vorgetäuscht. Es ist wie bei den Finanzmärkten: Die Liquidität durch die Finanzhilfen der Europäischen Zentralbank ersetzt nicht das Vertrauen. Der Markt – das Publikum – reagiert trotzdem nicht.

Der von Ihnen bevorzugte Frauentyp stürzt sich nach einer gescheiterten Liebe von einer Katastrophe in die nächstgrößere. Gilt dies analog auch für Städte wie Berlin?

Lemke: Das ist der zentrale Punkt. Berlin ist bis zum Tode subventioniert. Hier ist alles kaputt, und alles – die Politik, das persönliche Leben, jede U-Bahn-Fahrt – endet letztendlich in der Katastrophe. Aber in einer wirklichen Großstadt wie Berlin – oder eher Los Angeles – entwickeln die Menschen das Gespür, das zu akzeptieren. Sie retten sich einfach in die nächstgrößere Katastrophe – ohne Reue und ohne schlechtes Gewissen. Das nennt man Postmoderne – im deutschen Film hat das nie stattgefunden. All die Baustellen hier, daß jede Galerie, daß praktisch alles vom Staat bezahlt wird – das bricht ja irgendwann zusammen.

Nach Brecht wäre ein Land glücklich, „das keine Helden nötig hat“. Was hat es mit den „Helden“ in Ihrem Filmtitel auf sich?

Lemke: Für mich sind Helden Leute, die es etwas länger aushalten, die es einfach nochmal versuchen. In diesem Film wird ja pausenlos ausgeteilt, die Mädchen verprügeln die Jungs, und pausenlos gerät wirklich alles zur Katastrophe. Dann dennoch aufzustehen – das würde ich als heldenhaft bezeichnen. Ich weiß, daß das Wort „Held“ hier verpönt ist. Mit „Helden“ verbindet man ja immer, daß es in Deutschland keine Helden mehr geben sollte oder daß uns genau dieses Heldending sehr geschadet hat. Damit kann ich nichts anfangen.

Foto: Filmemacher Klaus Lemke mit einer Faun-Plastik im Hof der Müncher Universität („Schweinchenbau“) an der Leopoldstraße: 1940 in Landsberg an der Warthe geboren, aufgewachsen in Düsseldorf, studierte Klaus Lemke Kunstgeschichte und Philosophie und arbeitete als Regieassistent. Durch seinen Film „48 Stunden bis Acapulco“ machte er 1967 erstmals auf sich aufmerksam; der Durchbruch gelang ihm 1972 mit dem Fernsehfilm „Rocker“.

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