© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/12 11. Mai 2012

Helden sind keine Erpresser
Zweierlei Opfer der Weltkriegs-Belagerung: Das Jahrbuch für Geschichte Osteuropas widmet sich der Erinnerungspolitik der Leningrader Blokadniki
Oliver Busch

Die „900 Tage“ der deutschen Belagerung Leningrads von 1941 bis 1944 zählen zur eisernen Ration der Geschichtsmythen des Zweiten Weltkrieges. Ihre Wirkungsmacht bewies die Sowjetlegende vom heroischen Ausharren einer hungernden Großstadt im Bomben- und Granatenhagel zuletzt im Mai 2008, als es der Claims Conference gelang, die jüdischen Überlebenden des Kampfes mit Holocaustopfern auf eine Stufe zu heben.

Nicht, daß eine gewohnt hilflose Bundesregierung einmal mehr Erpressungen nachgab, sorgte dabei für öffentliche Irritationen, sondern der Beigeschmack von Apartheid, der der exklusiven Entschädigung für jüdische Blockadeopfer anhaftete. Vor dem Hintergrund einer seit der „Perestroika“ andauernden Dekonstruktion des „900-Tage-Mythos“ schien die Berliner Willfährigkeit einigermaßen rätselhaft. Denn russische Zeithistoriker sind sich inzwischen einig darüber, den Löwenanteil an den Verlusten der Zivilbevölkerung Stalin und seinen Statthaltern in der eingeschlossenen Newa-Metropole anzulasten. Ihre Korrekturen der tradierten Belagerungslegende beginnen mit Zweifeln an der militärischen Zweckmäßigkeit der Verteidigung und enden mit detaillierten Erörterungen der Lebensmittelzuteilungen, die der Sowjetnomenklatura auf Kosten der hungernden Masse eine auskömmliche Existenz sicherte.

Überdies steht unter russischen Entmythologisierern fest, daß die Wehrmacht bei der Einschließung der Stadt in den Grenzen des Völkerrechts agierte, was die Kreation einer neuen jüdischen Opfergruppe und ihre von der Claims Conference erzwungene Gleichstellung mit den Opfern eines „Menschheitsverbrechens“ besonders grotesk erscheinen läßt. Die russische Presse hat die deutsche Entscheidung, bei den Belagerungsopfern zwischen Juden und Nichtjuden zu differenzieren, als Ungerechtigkeit beklagt. Was jedoch die sonst so rührigen St. Petersburger Lobbyisten der russischen Blockadeüberlebenden, die „Blokadniki“-Verbände, nicht dazu bewog, ihrerseits in Berlin Wiedergutmachungsanträge einzureichen.

Warum, so wundert sich die Osteuropahistorikerin Tatiana Voronina (Berkeley), schlossen sich die gut organisierten „Blokadniki“ nicht der Claims Conference an? Eine Antwort darauf sucht Voronina in der verwickelten sowjetrussischen Erinnerungspolitik. Das Geschichtsbild der Überlebendenverbände folgte bis 1991 den wechselnden Moskauer Vergangenheitsversionen. Für die KPdSU war dieses Segment ideologischer Bewirtschaftung des „Großen Vaterländischen Krieges“ Teil jener kulturellen Produktion, die das jeweils aktuelle politische Handeln zu legitimieren hatte (Jahrbuch für Geschichte Osteuropas, 1-2012). Um 1950 etwa habe das Thema Blockade dazu gedient, die Leningrader zum Wiederaufbau zu motivieren. Um 1970, in der Hand von Komsomol-Agitatoren, sollten die „900 Tage“ die heranwachsende Generation indoktrinieren, und bis heute richten die Blokadniki ihr Erinnerungsmanagement daran aus, im Medium der Belagerungsgeschichte die Generationen zu verbinden – inzwischen befreit von kommunistischer Rhetorik und Folklore.

Was jedoch übrigblieb, ist der Kern der Sowjetlegende vom heroischen Widerstand der Volksmassen „gegen die Faschisten“. An der Auszeichnung „Für die Verteidigung Leningrads“ hingen zudem soziale Vergünstigungen, so daß der Zustrom ins Netzwerk der Opferverbände auch nach 1991 anhielt. Ihre Mitgliederzahl soll zeitweise größer gewesen sein als die Zahl derer, die sich während der Blockade tatsächlich in der Stadt aufhielten. In diesen Kreisen wies man die massiven Korrekturen seitens „revisionistischer“ Historiker als „Angriffe auf etwas Heiliges“ zurück. Die Teilhabe am symbolischen Kapital vermittelt daher heute weiterhin statt einer Opfer- eine Helden-identität. Und, so folgert Voronina, da Helden keine Erpresser sind, haben die Blokadniki „die Option von Kompensationsforderungen“ an die Deutschen nicht wahrgenommen.

www.osteuropa-institut.de

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