© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/12 11. Mai 2012

Die Schwalben werden weniger
Bismarcks Heimat Altmark: Agrarwandel und Abwanderung graben sich tief in das Gesicht dieser mitteldeutschen Kulturlandschaft
Heino Bosselmann

Die Dörfer der Altmark, der Antiqua Marchia, heißen Bismark, Lüderitz, Hindenburg. Reichsgebiet schon in fränkischer Zeit, altes Westelbien, ottonischer, karolingischer, gar langobardischer Boden. Karl der Große mag nach der Unterwerfung der Sachsen hier die Elbe erreicht haben. Früh läutete das Christentum ins Land. Otto I. übergab es Markgraf Gero, der von hier aus bis in die Lausitz vorstieß. Ab dem 12. Jahrhundert befestigte der Askanier Albrecht der Bär die Herrschaft und gewann Brandenburg hinzu. Das malerische Elbstädtchen Tangermünde wäre unter Karl IV. beinahe zum Reichsmittelpunkt avanciert. Friedrich I., erster Hohenzoller in der Mark, stieg dort 1415 vom Schiff. Otto von Bismarck meinte, von hier aus ging „der Anstoß zur Bildung des kurbrandenburgischen Staates und Preußens und schließlich zur Wiedergeburt des deutschen Reiches“.

Feldsteinromanik, die Kirchen so schwer wie die Äcker. Glaube und Boden schienen alles Wurzelnde zu nähren. Einen Schlag Menschen stellt man sich vor, der fest steht. Noch immer bauen sie in ihren Vorgärten Kartoffeln, Kohl und Bohnen an, daneben ein paar Runkelrüben fürs verbliebene Vieh. Zuckererbsen klimmen beigestecktem Birkenbusch empor. Vorm Wochenende werden beflissen die Wege und Friedhöfe geharkt. Prächtige Straßen- und Haufendörfer unter bienendurchsummten Linden. An den backsteinernen Höfen, die traufenseitig der Straße zu ihre fuhrwerksbreiten Toreinfahrten wie Burgen verschließen, sind über den Türstürzen alte Bauherrenschilder zu lesen, die in gekerbter Fraktur ausweisen, wer hier Hausstand und Wirtschaft gründete. Bei offenem Tor sieht man die gepflasterten Höfe, in deren Mitte der ordentlich gestapelte Dung dampfte, umgeben von den Stallungen und kirchenschiffhohen Scheunen. Weniger als zwanzig Hektar hatte hier keiner. Nicht zu unterschätzen die Städte, klein, ja, aber in der Geschichte ambitioniert. Die drei größten, Stendal, Gardelegen und Salzwedel, gehörten neben vier weiteren der Hanse an. Darunter die allerkleinste Hansestadt, das pittoreske Werben unterhalb des Elbknies, in der sich die älteste Gründung des Johanniterordens in Deutschland befindet.

Von der Einwohnerzahl her kaum noch eine Stadt und von irreversibler Abwanderung bedroht, kümmert sich neuerdings ein rühriger Initiativkreis um die Altstadt, die sich im engen Zirkel um die gewaltige Kirche St. Johanni schart, auf deren First die Storche zum Starten anstehen. Bis heute gibt es keine Autobahn, die das Land zerschneidet. Aber die A 14, von Magdeburg nach Schwerin, kommt. Leider.

Unter der Altmark befand sich die zweitgrößte Erdgaslagerstätte des europäischen Festlands, ausgebeutet bis 2005, jetzt als CO2-Speicher vorgesehen und Bürgerprotest auslösend. Und angeblich kommt die älteste Biermarke der Welt hierher, das in Gardelegen seit 1314 gebraute Garley-Bier. Radelt man durch dieses alte Land, erschreckt einen zuweilen die Stille. Der bäuerliche Impuls, der jahrhundertelang die Dorfkultur bestimmte, ist erloschen. Was früher von einem Dutzend Höfen bewirtschaftet wurde, das schafft jetzt eine Agrargenossenschaft oder ein Wiedereinrichter mit Hunderten Hektar.

Wie überall steht Biomasse hoch im Kurs. Eigentlich sind die Äcker Industrieanlagen im Vorfeld der Erzeugung von Gas und Sprit. Arbeitskräfte aus dem Dorf werden kaum mehr gebraucht. Der Westen ist nah. Man pendelt oder zieht hin. Leise Depression der geschichtlichen Nachsaison, Resignation hinter der aufgehübschten Fassade der wilhelminischen Ära, der Blütezeit auch dieser Region. Museal. Wenigstens das. Erst schlossen die Pfarreien, dann die Schulen, zum Schluß die Bürgermeistereien der kleinen Dörfer. Die verbliebenen Guthaben wurden mit den Fördermitteln in die Renovierung investiert, und jetzt liegt alles wie konserviert im Jahrhundertschlaf. „Die Schwalben werden weniger“, erzählt eine alte Frau. Wo alles so sauber ist und geputzt, fangen die nichts mehr, die bräuchten wieder Ställe und Mist. Nur sie?

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