© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/12 11. Mai 2012

Der Flaneur
Das Ameisenvolk
Josef Gottfried

Ich komme etwas später, 18 bis 18.30“, steht in der SMS. Treffpunkt wäre jetzt gewesen, 17 Uhr, ich bin schon seit fünf Minuten da. Auf einem Parkplatz mit S-Bahnanschluß. Mitten in der Pampa. „Du Affe klaust mir anderthalb Stunden meines Lebens“, möchte ich antworten, und anstatt „Affe“ eigentlich etwas Schlimmeres. Aber ich tippe „Kein Problem, bis gleich ;-)“ ins Handy. Sonst bekomme ich keine Mitfahrgelegenheit mehr.

Ich stelle meine Reisetasche auf ein Stück Wiese, genau auf eines dieser langen Betonstücke, welche den Rasen vom Gehweg trennen. In den Ritzen wachsen Moos und Gras. Ich setze mich auf die Tasche und schaue durch meine Beine auf das schmale Stück zwischen Beton und Rasen. Ich habe wohl ein Ameisenvolk gestört, denn dort wimmelt und krabbelt es, scheinbar in heller Aufregung.

Mir hingegen ist langweilig. Ich wünsche mir eine Zigarette. So wie damals, mit 15, als man sie geraucht hat, obwohl es ekelhaft war und den starken Speichelfluß dann zwischen die Beine gespuckt hat, bis kleine Pfützen entstanden. Doch nichts dergleichen. Keine Zigaretten, kein Dosenbier, noch nicht mal andere Leute, vor denen man mit solchen Geschichten prahlen könnte.

Zurück also zu den Ameisen. Sie beginnen mich zu erkunden, eine hat es schon auf den Ärmel meines Pullovers geschafft. Ich schnippe sie weg. Ihre Kameradinnen sind schon ruhiger geworden, die ersten Notfallmaßnahmen angesichts der durch mich entstandenen Bedrohung scheinen erledigt zu sein.

Eine Regelmäßigkeit in ihrem Treiben kann ich aber nicht erkennen, keine wirkt ziellos, jede scheint ihren Job zu machen – schon wieder eine, die ich wegschnippe –, aber was genau sie eigentlich vor, zwischen und unter dem Beton so treiben, ist mir schleierhaft. Und ich bin mir sicher, daß niemand es mir erklären kann.

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