© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/12 18. Mai 2012

Pankraz,
Rumpelstilzchen und der Shitstorm

Viel ist jetzt vom „Recht auf Anonymität“ die Rede. Vor allem die Piratenpartei fordert es lauthals. Zwar fordert sie auch die „Herstellung vollster Transparenz“ im politischen Betrieb, doch für sich selbst und die Ihren möchte sie eine Ausnahme machen. Wer justiziell belangbare persönliche Beschimpfungen ins Internet einspeist, aber nicht dazu stehen will, für den soll ein „Recht auf Anonymität“ gelten, wie bei Rumpelstilzchen: „Ach, wie gut, daß niemand weiß, / daß ich Rumpelstilzchen heiß.“

Im Internet anonym zu bleiben, ist bekanntlich sehr schwierig. Geht es überhaupt? Jeder „Poster“ braucht eine sogenannte IP-Adresse, und die kann von unzähligen Rechnern (und natürlich auch von den Rechnern staatlicher Behörden) mitprotokolliert und identifiziert werden. Es gibt in der Tat keinen hundertprozentigen Verschlüsselungscode, das Netz bietet keinen privilegierten Schutz für mediale Beleidiger oder Nötiger.

Leider aber gibt es eine Form von Anonymität, gegen die letztlich kein Gesetzesparagraph ankommen kann: die Beschimpfung einzelner durch eine verabredete Meute von Widersachern, die nicht an Gespräch und Diskussion interessiert sind, sondern die nur demütigen und verletzen wollen. Sie persönlich zu identifizieren, ist faktisch unmöglich. Das war früher bei den „Go-ins“ und „Sit-ins“ der 68er der Fall, die damit Dozenten fertigmachten, und das wird heute im Netz mit dem berüchtigten „Shitstorm“ praktiziert.

Jemand hat sich bei der „Netzgemeinde“ negativ auffällig gemacht, und da er sich nicht mit guten Argumenten in die Ecke treiben läßt, kommt man ihm mit Beleidigungen, die gar nicht gemein und scheußlich genug sein können – Shitstorm. Jeder einzelne Anwurf ist straffällig, doch es sind Tausende, ein medialer „Sturm“. Tausende von IP-Adressen müßten um der Gerechtigkeit willen eingesammelt und entschlüsselt werden, und das ist natürlich nicht zu schaffen. So gesehen, ist die Anonymität im Netz längst durchgesetzt, was soll da noch ein eigenes „Recht“ auf sie?

Ohnehin steht die Anonymität bei denen, die um Gerechtigkeit besorgt sind, in keinem guten Ansehen. Gewiß, sie liefert Schutz für bestimmte demokratische Prozesse, in erster Linie für die Ermöglichung freier Wahlen, welche im Massenzeitalter wohl auch unter halbwegs freiheitlichen Verhältnissen anonym stattfinden müssen. Das Wahlgeheimnis wird verfassungsrechtlich ausdrücklich garantiert. Indes, gerade die Garantie erinnert daran, daß es sich um eine Ausnahmeregelung handelt, daß also die Anonymität als solche weder besondere Hegung noch gar freiheitlichen Glanz für sich beanspruchen kann.

Freie Menschen verkehren untereinander mit offenem Visier und nennen sich beim Namen. Anonymität heißt, glatt übersetzt, Namenlosigkeit, der Anonymus ist der Namenlose, eine in allen Gesellschaften und Literaturen tief bemitleidete, aber auch gefürchtete Figur, der ein wichtiges Merkmal realer Existenz fehlt oder abhanden gekommen ist. Die Namensgebung eines Neugeborenen ist überall nicht nur ein behördlicher Verwaltungsakt, sondern eine hochfeierliche Zeremonie, eine „Taufe“, die unter altehrwürdigen Ritualen und Segenssprüchen vollzogen wird.

Kaum ein anderes Wort, das so viele Bedeutungen aufnehmen kann wie der Name, speziell im medialen Gewerbe. Dort „einen Namen“ zu haben, verleiht Ansehen, Rang und Karrierechancen. Nur ganz beiläufige (oder eben kriminal-verdächtige) Beiträge erscheinen in seriösen Medien anonym; gerade bei heiklen, eventuell auch justifizierbaren Artikeln, Kommentaren oder Features legt der Autor von Format größten Wert auf die Nennung seines Namens – oder er wählt ein Pseudonym, das heißt einen „Tarnnamen“, hinter dem er sich aus irgendeinem Grund momentan verstecken will.

Zwischen Anonym und Pseudonym klaffen Abgründe. Das erste ist Ausdruck schlichtesten Desinteresses oder eindeutig krimineller Absichten, das zweite ein hochinteressantes, faszinierendes literarisches Gebilde. Natürlich kommen auch Autoren vor, die ein Pseudonym benutzen, um schlicht „unter ihrem Namensniveau“ Geld zu machen, sich gewissermaßen moralisch oder stilistisch gehenzulassen. Doch die allermeisten verwenden im Gegenteil ihr Pseudonym, um sich vor dem Publikum schärfer zu markieren.

Es sind Arbeits- und Kampfnamen, non de plume und non de guerre, und es sind in der Regel Spielzeuge witzigster Unterhaltung oder auch Werkzeuge raffiniertester politischer Intrige. Politiker wie Talleyrand oder Bismarck haben unter Pseudonym geschrieben, um effektiver in laufende politische Prozesse eingreifen zu können. Das Pseudonym sollte zwar auch da zumindest zeitweise verbergen, auf Dauer jedoch oder auch schon zum selben Zeitpunkt durchaus auf den Autor hinweisen und seiner Arbeit größeres Gewicht verleihen.

Sören Kierkegaard, der große dänische Schriftsteller und Philosoph, hat unendlich mit Pseudonymen gespielt, ja regelrecht in Pseudonymen gedacht. Fast jedes seiner Bücher hatte einen anderen Autorennamen, und Kierkegaard spielte die, doch von ihm selbst erfundenen, Pseudonyme ständig gegeneinander aus, ließ sie gegeneinander polemisieren, und zwar nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern sogar in seinen eigenen, gänzlich privaten Tagebüchern! Von hinterhältigem Anonym-bleiben-Wollen keine Spur.

Wer vom „Recht auf Anonymität“ redet, kann sich wirklich einzig auf das oben erwähnte Rumpelstilzchen berufen, eine böse, mit dem Teufel im Bunde stehende Gestalt, die zwar gegebenenfalls leeres Stroh in Gold zu verwandeln versteht, doch nur um den Preis des Lebens der Goldsucher oder von deren Kindern.

Auch Rumpelstilzchen hat einen Namen, den ihm freilich der Satan persönlich verliehen hat. So möchte es lieber anonym bleiben, weil sich so besser dubiose Geschäfte machen lassen.Wenn man es endlich beim Namen nennt, bleibt ihm nichts weiter übrig, als sich selber in Stücke zu reißen.

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