© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/12 18. Mai 2012

Im Scheitern erfüllt sich das Schicksal
Erinnerungen an einen Unpolitischen: Zum 125. Geburtstag des Schriftstellers Ernst Wiechert
Thomas Fasbender

Ernst Wiechert sei keine Weltliteratur – das häufig wiederholte Verdikt wirft einen Schatten auf das Werk des 1950 in der Schweiz verstorbenen und heute fast vergessenen Schriftstellers, dessen Geburtstag sich am 18. Mai zum 125. Mal jährt. Als Sohn eines Försters in Masuren geboren, 1914 bis 1918 Weltkriegsteilnehmer, danach Studienrat am Königlichen Hufengymnasium in Königsberg, wurde er Mitte der zwanziger Jahre mit ersten Romanen bekannt und avancierte binnen weniger Jahre zu einem Erfolgsautor.

Die Mächte des etablierten deutschen Feuilletons täten ihn am liebsten als Heimatdichter ab, als einen masurischen Peter Rosegger, einen Hermann Löns des deutschen Ostens. Um so schärfer waren die Nationalsozialisten darauf aus, den populären Mann zu vereinnahmen. Da war einiges, das auf den ersten Blick passen mochte. Die Schönheit einer Sprache ohne Verzärtelung, ein Deutsch, in dem das schwere Blut der Heimat ein weich und elegant geformtes Flußbett fand, Sätze, die so anders klangen als jene in der ziselierten Sprachtradition der welschen Nachbarn.

Aber Wiechert war mehr als das Talent, mit Worten Bilder zu malen in Sätzen ohne Bruch und falschen Zungenschlag. Da war anderes. Das zähe Beharren etwa, mit dem er auf jeder Seite seines literarischen Schaffens Würde und Freiheit verteidigte, des Menschen Recht auf Wahrhaftigkeit als das Eigentliche seiner Existenz, als das Brot der Seele diesseits und jenseits von Fortschritt, Wohlstand und gerade auch von Politik.

So bissen sie auf Granit bei dem zierlichen Mann, der eher Haft, KZ und Gestapo-Aufsicht ertrug. Der Zorn und die Enttäuschung, abgewiesen worden zu sein, gipfelten in der Audienz, die der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Goebbels, dem Schriftsteller unmittelbar nach seiner Entlassung aus Buchenwald gewährte: „Wir wissen, daß Ihr Einfluß auf die Jugend groß und gefährlich ist.“ Noch ein einziges Wort gegen unseren Staat, drohte der mächtige Minister, und Wiechert kehre ins KZ zurück, „auf Lebenszeit und mit dem Ziel Ihrer physischen Vernichtung“.

So fest und unverrückbar Wiecherts Landschaften vor dem geistigen Auge stehen, so fragil und verletzt sind die Menschenbilder, die er zeichnet. Der Verlust der Sicherheit im Angesicht einer sich zunehmend dekonstruierenden Welt ist brennend gegenwärtige Folie für sein Werk, nicht weniger als der Untergang von Glaube und Tradition.

Seine Helden sind Gescheiterte, und darin unterscheidet er sich endgültig vom Heimatdichter. Im Scheitern erfüllt sich ihr Schicksal. Sie tragen ihr Kreuz, ohne daß Erlösung sie hoffen läßt. Sie retten sich vor ihrer Zeit und gehen an ihr zugrunde: der Waldbauernsohn Michael in der frühen Erzählung „Die Majorin“, der nach Jahren der Kriegsgefangenschaft in sein Dorf heimkehrt, seinen Namen aus dem Ehrenmal meißelt und doch nie wieder auf den Acker findet. Der Freiherr Amadeus in „Missa sine nomine“, der nach Kriegsende 1945 in einem Schafstall umgeben von Verwirrten lebt. Thomas von Orla, der Fregattenkapitän in „Das einfache Leben“, und der Pfarrer Agricola aus den „Jeromin-Kindern“, die beide ihr Leben auf einer Insel inmitten der masurischen Seen fristen. Orla, weil er als Fischer seine Berufung gefunden hat, der Pfarrer, weil nur der Alkohol und die Einsamkeit ihn von seinen Glaubenszweifeln erlösen.

Wiecherts bedeutendstes Werk ist der schmale Band „Der Totenwald“ mit den Erinnerungen an zwei Monate KZ-Haft in Buchenwald 1938. Er hat das Manuskript noch während des Krieges verfaßt und zusammen mit dem der „Jeromin-Kinder“ tief im Garten vergraben aufbewahrt. Sprachlich und in der Dichte der Beschreibung ebenbürtig mit Solschenizyns „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ trägt, „Der Totenwald“ den Leser an die Grenzen der Zumutbarkeit.

In dem Buch spielt das politische Phänomen des Nationalsozialismus die geringste Rolle, auch nicht die individuelle Psychologie der Gewalt. „Der Totenwald“ weckt Angst. Angst vor der tumben Macht der Masse ohne Rücksicht auf Idee oder Programm, Angst vor der Hilflosigkeit des einzelnen ihren Mechanismen gegenüber und vor dem Versagen der dünnen Tünche aus Kultur und Zivilisation im Ansturm der Barbarei.

Was Wiechert der Kritik entfremdet, ist seine beharrliche Weigerung, den Gang der Welt anhand rationaler Kategorien zu entschlüsseln: Interesse, Macht, Herrschaft, Organisationsstruktur. Für ihn ist der Mensch tiefer verwurzelt als im vordergründig Weltlichen, Gesellschaftlichen, verwurzelt in Dimensionen, die sich der Vernunft verschließen. Das gibt dem Autor sein spezifisch deutsches Gepräge – er steht in der Traditionslinie jener, deren Sprache Adorno 1964 als „Jargon der Eigentlichkeit“ geißelte.

Für die junge Nachkriegszeit ist der Vorwurf, im Kern unpolitisch zu sein, zumindest nachvollziehbar, nicht zuletzt mit Blick auf den 1946 in Zürich erschienenen „Totenwald“. Die überzeitlichen Anklänge in der Beschreibung der Haft paßten nicht in eine Epoche, die schon um ihres geistigen Fortbestands willen das Böse objektiv festmachen, an Standpunkte binden mußte. Das Ungeheure des Konzentrationslagers als Teil der Conditio humana zu begreifen, ging den Zeitgenossen über ihre Kraft. Wie sonst sollte man leben, wenn man, mit Berthold Brecht gesprochen, den Schoß, aus dem das gekrochen war, nicht auf der politischen Ebene bannen und benennen konnte?

Wiecherts letzter großer Roman, „Missa sine nomine“ (1950), läßt erkennen, daß er sich in der Tat für Nachkriegsdeutschland einen anderen Werdegang gewünscht hat. In der Gestalt dreier Brüder aus dem Memelland, 1945 in den Westen vertrieben, beschreibt er seine Vision von moralischer Läuterung, von Strafe und Verzeihen und Vergeben, die doch schon so weit entfernt war von den politischen Realitäten, vom Kalten Krieg und wohl auch von den geistigen Ressourcen, der geistigen Verfassung der Überlebenden, die vor allem aufbauen und satt werden wollten.

Ernst Wiechert stand außerhalb seiner Zeit, und er steht außerhalb der unsrigen. „Wir fanden diese Literatur sentimental, wehmütig und weltfremd“, schrieb Marcel Reich-Ranicki 2007. Das große Maschinenjahrhundert wollte anderes. Fortschritt, Tat und Ingenieurskunst, neue Form und neuer Mensch, positiv und aktiv im nationalen oder sozialistischen oder im Karriere-Kollektiv, das ganze Programm einer sich umkrempelnden Zeit, trunken vor Stahl und Machbarkeit, getrieben von Revolutionen und Befreiungen und wieder Revolutionen, ein Planet, den Schaufelbagger, Panzerketten und Tunnelbohrer durchwühlen – keine Heimat mehr für den Ochsen, der schweren Schrittes durch die nasse Furche seine Pflugschar zieht.

Wiecherts Wertschätzung einer passiven Melancholie und rückwärtsgewandter Innerlichkeit, dem „Selbstgenuß der Trauer“, den Max Frisch ihm vorgehalten hat, begegneten die Meinungsträger vor und nach 1945 mit der gleichen Distanz. „Alle Gestalten Wiecherts sind von Gedanken überlastet, innerlich zergrübelt und von schwerem Leid gequält. Sie passen nicht zu uns (…). So bleibt dieses Buch ichbezogen und ohne allgemeingültige Bedeutung für unsere Gegenwart.“ Mit diesen Worten begutachtete die Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums bei dem Beauftragten des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Erziehung der NSDAP sein bekanntestes Werk, „Das einfache Leben“ (JF 8/12). Die abschließende Bewertung: „Der Roman kann nicht empfohlen werden.“

Bleibt Wiechert also ein Seitenast der deutschen Literatur, ein großes Sprachtalent, verschwendet an ein historisch nicht wettbewerbsfähiges Welt- und Menschenbild? Oder läßt er sich auch in ein Morgen hinein deuten?

Vielleicht wird das ja dereinst ein Anliegen einer jungen Generation, wenn ihr der Glaube an den Fortschritt der Zeit endgültig unter den Fingern zerrinnt. Auch deshalb, weil es radikal zu brechen gilt, radikal auszubrechen aus eingefahrenem Denken. Wer aber die kühne Volte wagt, dem mag es wie Schuppen von den Augen fallen, und mit dem vergessenen Schriftsteller wird er vielleicht erkennen, daß die ganze Moderne, dieser ungeheure Sündenfall der Aufklärung, wohl nichts als eine Sackgasse war. Eine Sackgasse ohne Wendekreis.

 

Lesung

Das Ostpreußische Landesmuseum Lüneburg (www.ostpreussisches-landesmuseum.de) präsentiert am 23. Mai um 19 Uhr die „Geburt eines Dichters. Ernst Wiechert zum 125. Geburtstag“, gelesen von der Schauspielerin Regina Pressler, Musikalisch umrahmt von Wilhelm Kempffs Streichquartett Nr. 1 d-moll op. 45/1, ausgeführt vom Malinconia Ensemble Stuttgart.

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