© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/12 25. Mai 2012

Pankraz,
Ch. Rosen und die Freude in der Musik

Voriges Jahr zu Pfingsten schrieb Pankraz – wie sich vielleicht einige Leser erinnern – über Beethovens Neunte, über deren Schlußchor „Freude schöner Götterfunken“ und warum dort also die Freude als der höchste aller menschlichen Werte gefeiert werde. Daraufhin bekam er Briefe und E-Mails, die behaupteten, Beethoven habe gar nicht die Freude, sondern die Freiheit gemeint; er habe die Freude lediglich „aus Gründen drohender Zensur“ für die Freiheit eingesetzt, sie als bloßes Substitut und Tarnwort benutzt.

Beweisen konnte keiner der Briefschreiber etwas, und es läßt sich auch gar nichts beweisen. Natürlich hat Beethoven die Freiheit geliebt und für wichtig gehalten; immerhin ist seine einzige Oper, „Fidelio“ (uraufgeführt 1805 im Theater an der Wien), eine reine Kerker- und Befreiungsoper. Und auch Schiller, dessen „Ode an die Freude“ Beethoven vertonte, war ein Freiheitsheld. Keiner von beiden hat aber die Freude als Tarnschild benutzen wollen; weder Text noch Musik der Neunten geben das Geringste für solche Annahme her.

Ein jetzt in der New York Review of Books unter dem Titel „Freiheit und Ästhetik“ erschienener Essay des großartigen Pianisten und Musikschriftstellers Charles Rosen (85) beschäftigt sich speziell mit diesem Thema. Rosen skizziert zunächst einmal die musikalische Situation um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, als „Rettungs- und Befreiungsopern“ beim Publikum sehr beliebt waren und zu der – außer Verdi und Auber („Die Stumme von Portici“) – eben auch Beethoven mit dem „Fidelio“ seinen Beitrag geliefert hatte. Doch dann wendet er sich der Neunten zu, und da wird sein Urteil doch recht deutlich.

Zwar gebe es, schreibt er mit großer Bedächtigkeit, im Chorfinale der Sinfonie so manchen „militärischen Sound“, der eher an Freiheitskämpfe statt an Freudenfeste denken lasse; auch passe die Schillersche Rhetorik mit ihrem „Himmel überm Sternenzelt“ sehr gut zur üblichen Vorstellung von Freiheit, während der Freude (meint Rosen) die Würde solcher gewaltigen Raumvorstellungen abgehe. Doch sei es verfehlt, daraus auf bewußte politische Implikationen des Komponisten zu schließen. Der Sieg, der in der Neunten besungen werde, sei von vorn bis hinten ein spiritueller Sieg.

Resümee à la Rosen: Beethoven habe bestimmt nicht versucht, die Freiheit schlau hinter der Freude zu verstecken. Er hatte mit dem „Fidelio“ seine Freiheitsoper pünktlich abgeliefert – und wandte sich nun neuen, ihm wichtiger erscheinenden Themen zu, zum Beispiel der Freude. Natürlich sind Freiheit und Freude nicht unvereinbar, schreibt Rosen, „sie passen oft sogar bemerkenswert gut zusammen“. Doch identisch seien sie nicht, auch nicht in der Musik, etwa in dem Sinne, daß gute Musik immer Freiheitsmusik sei, Musik zur Feier der Freiheit.

Tatsächlich hat es zu allen Zeiten unzählige ausgezeichnete, die Seelen bewegende Musikstücke gegeben, die statt der Freiheit die Macht verherrlichten (oder manchmal gar erst ermöglichen), die Macht Gottes oder gewaltiger Herrscher, die Macht kollektiven Marschtritts oder Gedanken vernebelnder Derwischtänze, die Macht der Trance und des völligen Sichauslieferns. So betrachtet mag es beinahe scheinen, als sei die Musik strukturell gänzlich auf sich selbst bezogen und diene folglich jedem Herrn, der sie ordentlich ins Brot setze.

Aber wie steht es nun mit dem Verhältnis zwischen Musik und Freude? Hier hört die Selbstbezogenheit der ersteren völlig auf, denn die Freude gehört zu ihr wie das Herz zum Blutkreislauf. Man kann sagen (und Beethoven sagte es): Musik ist Freude, zwischen beide paßt nur das Gleichheitszeichen. Das war es ja, was ihn so sehr an der von ihm hoch bewunderten „Ode an die Freude“ gestört hatte – daß sie als Sprache daherkam. So brütete er jahrzehntelang darüber, wie sie ohne Punkt und Komma in Musik umzusetzen sei. Wie man es also schaffen könne, sie ohne jegliche Sprachkrücke zu sich selbst zu bringen.

Freiheit ihrerseits war Sprache und Kalkül. Sie mußte als je eigene stets mit der Freiheit der anderen ins Benehmen gesetzt werden, es war stets einschränkende Notwendigkeit in ihr, genau wie das Professor Hegel zur selben Zeit, da die Neunte uraufgeführt wurde (1824), auf seinem Berliner Lehrstuhl seinen Studenten beibrachte. Freiheit mußte gelehrt und gelernt werden, Freude hingegen war ganz und gar Gefühl, reiner Affekt, der reinste, den es gibt und der überhaupt vorstellbar ist: ein mächtiges, momentanes und jubelndes Mit-sich-und-der-Welt-Zufriedensein, wie es eben nur die Musik abbilden kann, nie die Sprache.

Freude ist ein Kind des Augenblicks, in dem Lust und Befriedigung, Egoismus und Dankbarkeit sich untrennbar vermischen. Alle Sprachen der Welt wissen das übrigens und setzen eine deutliche Differenz zwischen Freude und bloßem Vergnügen, bloßer Genugtuung, bloßem Freiheitsgenuß. Die französische „joie“ ist meilenweit entfernt von der genießerischen „juissance“, vom vergnügten „plaisir“. Das englische „joy“ will nur ganz wenig zu tun haben mit der seicht-fröhlichen „gladness“, dem wonneproppigen „delight“.

„Charis“, das altgriechische Wort für Freude, war der Sammelbegriff für die Chariten, die das Wohlbefinden des Menschen in fruchtbarer Natur verkörperten, ein Geschlecht voller Anmut, Grazie und Eleganz, wie es nirgendwo sonst anzutreffen war. Wer sich wirklich freut, ohne die geringste Häme und „Schadenfreude“, der macht sich mit den Chariten gemein. Nur wenn wir uns freuen, für einen Augenblick voll in der Freude stehen, sind wir auch anmutig und graziös – und vielleicht sind wir dann (und nur dann) auch wirklich frei.

Dies bedenkend, bekommt Charles Rosen voll recht: Freude und Freiheit vertragen sich gut. Beethoven hat in der Neunten keineswegs in schlauer politischer Absicht die Freiheit durch die Freude substituiert, er hat durchaus einzig und allein die Freude gemeint. Aber die Freiheit war irgendwie mit im Spiel, wie die Wärme bei der Sonne.

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