© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/12 01. Juni 2012

Röttgens hinterlassene Baustellen
Energiewende: Kohle- und Gaskraftwerke müssen AKWs ersetzen / Strompreisspirale dreht sich immer weiter
Matthias Görtz

Weltrekord – deutsche Solaranlagen produzieren erstmals Strom mit über 20.000 Megawatt Leistung!“ jubelte über Pfingsten das Internationale Wirtschaftsforum Regenerative Energien (IWR), ein in Münster beheimatetes Lobbyunternehmen der Sonnen-, Wind- und Bioenergie­branche. Die genannte Solaranlagenleistung entspreche der Leistung von mehr als 20 Atomkraftwerken.

Doch der Weltrekord bei wolkenlosem Himmel währte nicht lange. Bei Solarenergie gab es von Januar bis April zwar ein Plus von 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr – aber woher kommt der Ersatzstrom bei Regenwetter, oder wenn im Winter die Nächte lang sind? Das ist eine der brisanten Fragen, auf die der neue Umweltminister Peter Altmaier (CDU) eine schnelle Antwort finden muß. Und die nach Fukushima beschleunigte Energiewende birgt noch zahlreiche weitere ungelöste Probleme, für die sein Vorgänger Norbert Röttgen nur wolkige Ankündigungen, aber keine praktikablen Lösungen parat hatte. Zum deutschen Atomwiederausstieg kommen die übernommenen Verpflichtungen zur Reduktion des Kohlendioxid-Ausstoßes: So muß beispielsweise bis Juli die neue EU-Richtlinie über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden umgesetzt sein. Derzeit stecken die Gesetze zur Förderung energetischer Gebäudesanierungen und zu den geplanten Kürzungen der Solarförderung im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) im Vermittlungsausschuß zwischen Bund und Ländern fest. Die umstrittene Dämmung von Wohnhäusern soll nun auch der Mieter mittragen, die Energiewende wird künftig so bei jedem im Geldbeutel spürbar.

Bei der Produktion von Windstrom gab es in den ersten vier Monaten dieses Jahres ein Plus von 25 Prozent, der Anteil erneuerbarer Energien bei der Stromproduktion lag im vergangenen Jahr bereits bei einem Fünftel. Unaufhaltsam werden neue Windräder und Solaranlagen errichtet, aber die Stromnetze arbeiten an ihren Kapazitätsgrenzen. Die überwältigende Mehrheit der Deutschen ist gegen die Kernenergie. Und in Umfragen plädieren viele für „grünen Strom“ – aber die notwendigen neuen Stromtrassen sollen bitte schön nicht vor der eigenen Haustür verlaufen. Mindestens 4.000 Kilometer Leitung müssen aber quer durch Deutschland verlegt werden. Neben diesen Hochspannungstrassen fehlen zusätzlich noch Zehntausende Kilometer an Regionalverteilernetzen. Die extrem teuren Windparks in Nord- und Ostsee produzieren schon heute mehr Strom, als sie ins Netz einspeisen können. Eine Speicherung der überschüssiger Windenergieproduktion ist bislang nicht möglich, die Forschung ist weit hinter dem zurück, was für die ausgerufene Energiewende aber vonnöten ist.

Der Verbraucher bezahlt die Ökostrom-Sondergewinne

Nur eines ist sicher: Strom und Wärme werden noch teurer. Wenn die Politik dabei die Schuld auf die gestiegenen Öl- und Gaspreise schiebt, ist das bestenfalls die halbe Wahrheit, schließlich sind 45 Prozent der Stromkosten (ähnlich wie beim Benzinpreis) Steuern, Abgaben und die EEG-Umlage. Die Höhe der EEG-Umlage errechnet sich aus der Differenz zwischen den gesetzlich garantierten Zahlungen an den Betreiber einer Solaranlage (Beispiel: 24,4 Cent pro Kilowattstunde) für den eingespeisten Ökostrom und dem Verkaufserlös (3 bis 5 Cent) an der Strombörse. Die entstehende Differenz (hier etwa 20 Cent) trägt der Stromverbraucher. Daraus (und aus entsprechenden Zahlungen für Wind, Biogas & Co.) ergibt sich in diesem Jahr eine EEG-Umlage von 3,592 Cent pro Kilowattstunde. 2003 waren es lediglich 0,41 Cent.

Im Gegensatz zu Röttgen und Altmaier redete Ex-Wirtschaftsminister Rainer Brüdele (FDP) kürzlich Klartext: Wenn bis 2022 die noch in Betrieb befindlichen neun deutschen AKWs vom Netz sollen, müßten neue Gas- und Kohlekraftwerke von mindestens 10.000 Megawatt Leistung zu den bereits existierenden 140 deutschen Kohlekraftwerksblöcken (derzeit liefern sie etwa 44 Prozent des deutschen Stroms) her. Das kollidiert aber mit den übernommenen Klimaschutz- und CO2-Reduktionszusagen: „Energiewende braucht Kohleausstieg“, fordert etwa die Umweltschutzorganisation Greenpeace. Strom aus Braun- und Steinkohle sei der „klimaschädlichste Energieträger“ überhaupt. Bis 2030 müsse Deutschland aus der Braunkohle und bis 2040 aus der Steinkohle aussteigen – doch ohne Kohle gibt es keinen Atomausstieg.

Die Industrie warnt bereits vor einer Deindustrialisierung wegen Versorgungsengpässen und exorbitant hoher Stromkosten: Zementhersteller, die chemische Industrie und die besonders viel Strom benötigende Aluminiumindustrie könnten ganz aus Deutschland abwandern: Gutbezahlte Arbeitsplätze würden vernichtet, der Staat verlöre Steuereinnahmen. Ab 2013 drohen neuen Lasten durch den CO2-Emissionshandel. Die Folgen, wenn sich der Industriestrompreis gegenüber dem Jahr 2000 fast verdoppelt hat und mittlerweile fast die Hälfte der Produktionskosten in der Aluminiumindustrie auf den Strom entfallen (während Personalkosten nur etwa fünf Prozent ausmachen), liegen auf der Hand.

Die Umsetzung des großen Vorhabens „Energiewende“ verlangt eine einheitliche nationale Abstimmung. Doch derzeit hat jedes deutsche Bundesland sein eigenes „Energiekonzept“. So blockiert man sich gegenseitig. Japan steht übrigens vor demselben Dilemma wie Deutschland: Anfang Mai ging Japans letzter von einstmals 54 Atomreaktoren vom Netz, das Land der aufgehenden Sonne ist nun vorübergehend atomstromfrei. Kurzfristigen Ersatz liefern die von Greenpeace & Co. verteufelten Gas-, Öl- und Kohlekraftwerke sowie wirklich einschneidende Energiesparmaßnahmen. Stromimporte sind wegen der Insellage bislang nicht möglich. Der Härtetest im heißen japanischen Sommer steht aber noch bevor.

Foto: Windräder in Norddeutschland: Die Stromnetze arbeiten an ihren Kapazitätsgrenzen, weil wichtige Großverbraucher in Süddeutschland sitzen

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