© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/12 01. Juni 2012

Jeder konnte Opfer werden
Gulag: Eine Ausstellung im Schloß Neuhardenberg präsentiert Spuren und Zeugnisse des sowjetischen Lagersystems
Ekkehard Schultz

Die 1907 in St. Petersburg geborene Nina Wseswjatskaja ging nach ihrem Studium als Lehrerin in den Fernen Osten. Dort lernte sie einen koreanischen Kommunisten kennen und gründete mit ihm eine Familie. Wegen angeblicher Spionage für Japan wurde ihr Mann 1937 zum Tode verurteilt. Ein Jahr später geriet auch Wseswjatskaja ohne den geringsten Beweis einer Schuld in die Fänge des sowjetischen Geheimdienstes NKWD. Als „Ehefrau eines Vaterlandsverräters“ wurde sie zu fünf Jahren Lager verurteilt und erst 1945 wieder entlassen. Ihre Kinder mußten während dieser gesamten Zeit bei den Großeltern aufwachsen.

Wseswjatskaja ist nur ein einziges Beispiel von vielen Millionen Menschen, die in der ehemaligen Sowjetunion zwischen 1929 und 1956 als Häftlinge im riesigen Gulag-System Zwangsarbeit leisten mußten. Mehr als zwei Millionen überlebten diese Zeit nicht, unzählige litten lebenslang unter den physischen und psychischen Folgen.

Gemeinschaftsprojekt mit Moskauer Initiave

Nun wird im brandenburgischen Neuhardenberg – mehr als zwanzig Jahre nach dem Ende der kommunistischen Gewaltherrschaft in Mittel- und Osteuropa – die erste große Ausstellung über das Lagersystem in der ehemaligen Sowjetunion innerhalb Deutschlands präsentiert. „Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929–1956“ ist ein Gemeinschaftsprojekt der Aufarbeitungsinitiative „Memorial“ aus Moskau und der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau Dora; unterstützt wird sie von der Kulturstiftung des Bundes. Die Schirmherrschaft für die Ausstellung übernahm der ehemalige Konzentrationslager-Häftling Jorge Semprun, der zu Beginn dieses Jahres starb. Semprun war es zu Lebzeiten immer ein besonderes Anliegen, die Geschichte der totalitären Regime gleichberechtigt aufzuarbeiten und jegliche Klassifikationen der Opfer zu vermeiden.

Einer der Schwerpunkte der Präsentation besteht darin, die enge Verzahnung der politischen und wirtschaftlichen Gründe aufzuzeigen, die für die Entstehung des Gulag-Systems ausschlaggebend waren. Schon am Beginn der kommunistischen Herrschaft stand der rücksichtslose Kampf gegen alle vermeintlichen Feinde, die angeblich den Weg zu einer besseren und humaneren Gesellschaft erschwerten. Dazu gehörten die Isolation und die „Umerziehung“ der sogenannten Klassengegner.

Die Gesamtzahl der Gefangenen potenzierte sich innerhalb kürzester Zeit, galt es doch, Schuldige zu finden, auf deren Wirken das eigene wirtschaftliche Versagen zurückgeführt werden konnte: Nun wurden Anhänger der Sozialdemokratie ebenso Opfer des Terrors wie sonstige „Abweichler“, „Saboteure“, „Spione“ und die Familienangehörigen von vermeintlichen Gegnern. Die Frage nach tatsächlicher Schuld oder Unschuld war dabei nicht ausschlaggebend. Geständnisse wurden im Regelfall erpreßt oder gar von den Gefangenen oftmals rein erfundene Selbstbeschuldigungen verlangt.

Eng verbunden waren diese politischen Erwägungen mit wirtschaftlichen Aspekten. So waren auf dem herkömmlichen Wege die überdimensionierten Ziele des ersten Fünfjahresplans (1928–1933) faktisch nicht zu erreichen. Dies war letztlich der konkrete Anlaß für die Schaffung eines Zwangsarbeitersystems, für das 1931 eine eigene Hauptverwaltung eingerichtet wurde und das aus Hunderten von Haupt- und Nebenlagern bestand.

Die Ausstellung zeigt anhand von Fotos und anderen persönlichen Dokumenten exemplarisch, bei welchen Großprojekten die Häftlinge eingesetzt wurden. Zu den bekanntesten zählen der Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals, der Baikal-Amur-Magistrale, der Moskauer Metro sowie die Goldförderung in der Kolyma. Die schwerste körperliche Arbeit verrichteten sie in der Regel ohne jeglichen gesundheitlichen Schutz. Maschinen kamen dabei fast nie zum Einsatz, vielmehr nur primitivstes Gerät, welches von den Insassen oft erst selbst konstruiert werden mußte. Zudem wurde die Häftlingsarbeit vielfach für Projekte mißbraucht, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt waren. So stellte etwa der Bau der Polareisenbahn in der Tundra aufgrund der natürlichen Gegebenheiten vor Ort, insbesondere der klimatischen Verhältnisse, eine Unmöglichkeit dar. 

Dennoch hatte gerade die Realisierung von großen Förderanlagen zur Gewinnung von Bodenschätzen und von Verkehrswegen für die sowjetischen Machthaber eine große Bedeutung. Sie erhofften sich davon nicht nur eine Steigerung ihres Prestiges innerhalb ihres Machtbereiches, sondern vor allem einen Ansehensgewinn im Ausland. Tatsächlich gab es in Teilen der politischen Klasse der westlichen Staaten allzuoft eine verhängnisvolle Bewunderung – gerade auch von Menschen, denen eine Umsetzung der kommunistischen Doktrinen nicht nur die wirtschaftliche Existenz, sondern möglicherweise auch das Leben selbst gekostet hätte.

Erst in den fünfziger Jahren setzte sich nach dem Tode Stalins auch innerhalb der sowjetischen Führung die Erkenntnis durch, daß die Lager nicht nur unmenschlich waren, sondern auch ökonomisch ineffizient. Dies führte dazu, daß große Teile des Gulag-Systems aufgelöst wurden. Gleichwohl blieb in der Form von Strafkolonnen die Zwangsarbeit in der Sowjetunion bis zum Ende der achtziger Jahre erhalten.

Detailliert wird in der Ausstellung zudem gezeigt, daß das Gulag-Schicksal jeden treffen konnte. Es war keine Frage der Klasse oder Schicht – keine Herkunft, keine persönliche Schuld oder Unschuld, keine Nationalität, keine Partei- oder Organisationsmitgliedschaft als solche war letztlich dafür verantwortlich. Vielmehr erfolgte die Auswahl im Regelfall rein willkürlich, aber stets mit dem Ziel, die gesamte Bevölkerung einzuschüchtern. Die dennoch verbreiteten Behauptungen, daß die Inhaftierten eine besondere persönliche Schuld auf sich geladen hätten, waren von Anfang an reine Propagandafloskeln. Zudem stellten die Inhaftierten nie eine tatsächliche Gefahr für die Sowjetmacht dar. So entsprach die Zusammensetzung der Häftlinge im Gulag weitgehend der Zusammensetzung der Gesamtgesellschaft, lediglich Ukrainer, Balten und Polen wurden überdurchschnittlich Opfer des Terrors.

Leider wird in der Präsentation der Vergleich mit anderen Lagersystemen ebenso wie ein totalitarismustheoretischer Ansatz weitgehend gescheut. Zwar gibt es einige Tafeln, die auf entsprechende Gemeinsamkeiten und Unterschiede verweisen, doch sie bleiben sehr oberflächlich. So wird im Hinblick auf die nationalsozialistischen Konzentrationslager erklärt, daß Verweise auf den Gulag in der Bundesrepublik lange Zeit zur Entlastung des Nationalsozialismus gedient hätten – was an dieser Stelle zumindest etwas merkwürdig anmutet.

Aufgrund der räumlichen Kapazitäten geht die Ausstellung zudem auf andere Verbrechen während der kommunistischen Gewaltherrschaft nicht ein. Dieser Ansatz ist wegen der Dimensionalität dieses Themas sicherlich legitim. Allerdings gilt es dabei nicht zu vergessen, daß dabei etwa die zahlreichen Opfer des „Großen Terrors“, der Todesstrafen und der Hungerkatastrophen unberücksichtigt bleiben. Auch die Frage, wieviel der Westen von den Massenverbrechen in der Sowjetunion wußte und warum dort dennoch erhebliche Teile der Gesellschaft dazu schwiegen, verdrängten oder gar die Verbrechen legitimierten, bleibt in „Gulag“ unbeantwortet 

Eine interessante Frage wäre auch, weshalb diese große Ausstellung ausgerechnet in dem zwar landschaftlich und lokalhistorisch äußerst reizvollen, aber doch etwas abgelegenen Märkisch-Oderland präsentiert wird. Ebenso erscheint die vergleichsweise kurze Ausstellungsdauer von nur acht Wochen zumindest unbefriedigend. 

So wird in Neuhardenberg zweifelsohne eine zwar wissenschaftlich seriöse, gut aufbereitete und sehr anschauliche Ausstellung präsentiert, deren Kenntnisnahme jedem politisch und historisch Interessierten empfohlen werden kann, auch wenn sie letztlich – zumindest für die bereits mit dieser Thematik Vertrauten – nur wenig Anregungspunkte für weitergehende Fragen und Diskussionen bietet. Dies ist vor allem deshalb schade, weil die reine Faktenvermittlung bei derartigen Massenverbrechen nicht genügen kann. Denn nur durch lebhafte Auseinandersetzungen wird dieser Stoff, dessen Aneignung für ein ausgewogenes und belastbares Geschichtsbild eminent wichtig ist, auch in den westlichen Ländern endlich Teil der Allgemeinbildung werden.

Die Ausstellung „Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929–1956“ ist noch bis zum 24. Juni auf Schloß Neuhardenberg in der Ausstellungshalle Kavaliershaus Ost täglich außer montags von 11 bis 19 Uhr zu sehen. Der Eintritt kostet 8 Euro (ermäßigt 4,50 Euro). Telefon: 030 / 88 92 90-0

Vom 21. August bis 21. Oktober wird die Schau im Schiller-Museum Weimar gezeigt.

 www.schlossneuhardenberg.de

 

Begleitband

Der Begleitband zur Ausstellung dokumentiert den Gulag anhand signifikanter Exponate und präsentiert bislang unbekannte Fotos und Dokumente; Biographien ehemaliger Lagerhäftlinge zeigen die Bandbreite der Verfolgungsschicksale. Wissenschaftliche Aufsätze von Nicolas Werth und Irina Scherbakowa führen ein in die internationale Forschung zur Geschichte des Gulag und beschreiben die Tätigkeit und die Sammlungen der Gesellschaft „Memorial“.

Volkhard Knigge, Irina Scherbakowa (Hrsg.): Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929–1956. Wallstein Verlag, Göttingen 2012, broschiert, 156 Seiten, 14,90 Euro

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