© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/12 01. Juni 2012

Hirntod und Organentnahme
Die letzte Scheu
Hans-Bernhard Wuermeling

Das Aufkommen von menschlichen Organen für die Transplantation zu erhöhen, ist das Ziel des novellierten Transplantationsgesetzes, das die Abgeordneten des Deutschen Bundestages am 25. Mai 2012 mehrheitlich (gegen die Stimmen der Linkspartei und der Grünen) verabschiedet haben. Was wird sich ändern? Die bisherige Zustimmungslösung für die Organspende soll durch eine Entscheidungslösung ersetzt werden. Die Zustimmung des Betroffenen mußte bisher schriftlich vorliegen (Organspenderausweis) oder von Angehörigen mitgeteilt – nicht etwa ersetzt – werden. 

Künftig werden aber alle Bürger routinemäßig befragt, ob sie sich für oder gegen postmortale Organspende entscheiden. Fehlt eine solche Entscheidung, dann können Angehörige wie bisher mitteilen, was sie vom Betroffenen zur Frage der Organspende wissen. Neu ist dabei, daß ihnen darüber hinaus ein eigenes Entscheidungsrecht zugestanden wird für den Fall, daß ihnen unbekannt ist, wie sich der Betroffene entschieden hat.

Damit wird allerdings das höchstpersönliche und bisher nicht vertretbare Recht des Bürgers, über den Umgang mit seiner Leiche zu entscheiden, beschnitten. Auf die wieder diskutierten Zweifel, ob der Hirntod der Tod des Menschen sei, geht das Gesetz nicht ein. Klärungen dazu wären aber erforderlich, um die Bereitschaft zur Organspende zu fördern.

Am Vorabend der ersten Lesung des Gesetzes im Bundestag hatte der Deutsche Ethikrat getagt, um die Politiker mit neuen Erkenntnissen zum Ende des menschlichen Lebens zu versorgen. Doch blieben die Abgeordneten „so klug als wie zuvor“ (Goethe), denn was da im Ethikrat zur Sprache kam, war entweder nicht neu oder politisch nicht umsetzbar. So trug der Potsdamer Philosoph Ralf Stoecker vor, es gebe heute nicht nur lebende und tote Menschen, sondern auch nicht mehr ganz lebendige, aber auch noch nicht ganz tote.

Für diese forderte er die Annahme eines dritten Zustandes. Deswegen könne man auf die ganze Hirntoddebatte ruhig verzichten. Und wenn es einem guten Zweck diene, etwa der Behandlung von Kranken, dürfe man einem Menschen in diesem Zwischenzustand durchaus Organe entnehmen, auch wenn er danach ganz tot sei. So einfach ist das! Jedenfalls dann, wenn man sich über die Lehre vom Selbstwiderspruch oder vom ausgeschlossenen Dritten hinwegsetzt, eine Lehre, die seit Aristoteles Grundlage geordneten Denkens ist. Aber Stoeckers „Erkenntnis“ ist für jene verführerisch, die nicht weiter nachdenken, sondern einfach weiterwursteln möchten. Der Philosoph Michael Quante meinte dagegen, daß es noch weiterer eingehender Diskussionen zwischen Philosophen und Naturwissenschaftlern bedürfe, um den Zeitpunkt des Endes des Lebens des Menschen herauszufinden. Doch hilft das den Abgeordneten des Bundestages im Augenblick auch nicht weiter. Aus den USA hatte man den Neurologen Alan Shewmon gebeten, seine Ablehnung der These, der Hirntod sei der Tod des Menschen, zu begründen.

Der Zusammenhang der Person mit ihrem Körper, den das Wort vom beseelten Leib auszudrücken versucht, ist selbstverständlich nicht zu leugnen. Aber dieser Zusammenhang bleibt geheimnisvoll; darin liegt das            ungelöste Leib-     Seele-Problem.

Doch führte er nur aus, daß er zahlreiche Fälle kenne, in denen als hirntot diagnostizierte Patienten diese Diagnose lange Zeit „überlebt“ hätten. Einzelheiten dazu teilte er nicht mit. (Er behauptete allerdings nicht, daß diese Patienten ihre Gesundheit wieder erlangt hätten.) Aus seinen Beobachtungen folgerte er, daß das Gehirn nicht das einzige Organ sei, das für die Integration der Lebensvorgänge in einem Organismus verantwortlich sei. Tragend für seine Ablehnung der Hirntodthese ist aber, was er denn unter Leben und Organismus versteht. Damit steht und fällt nämlich seine Argumentation. Seine biochemischen Ausführungen dürften die meisten Zuhörer kaum verstanden haben.

Eindeutig und klar beschrieb dagegen die Münchener Neurologin Stefanie Förderreuther, wie der Tod des Gehirns entsteht, und erklärte, daß und wie dieser sicher feststellbar sei. Damit widerlegte sie überzeugend das eine Hauptargument gegen die Hirntodthese, mit dem die Unsicherheit bei der Feststellung des Todes des ganzen Gehirns behauptet wird.

Das andere Hauptargument gegen die Hirntodthese ist aber, mit dem Hirntod könne der Tod des Menschen als Person nicht festgestellt werden. Zwar lassen sich die biologischen Fakten von Sterben und Tod einfach beschreiben. Aber ihre Deutung für die Frage des Todes der menschlichen Person ist nicht einfach. Handelt es sich doch darum, den Tod der Person, der einer direkten naturwissenschaftlichen Betrachtung nicht zugänglich ist, auf eine naturwissenschaftliche Ebene zu projizieren.

Das kann nicht, zumindest nicht punktgenau oder besser zeitpunktgenau, gelingen, weil hier Begriffe aus zwei völlig verschiedenen Kategorien verwendet werden. Der Zusammenhang der Person mit ihrem Körper, den das Wort vom beseelten Leib auszudrücken versucht, ist selbstverständlich nicht zu leugnen. Aber dieser Zusammenhang bleibt geheimnisvoll; darin liegt das ungelöste Leib-Seele-Problem.

Den Beobachter der Diskussionen im Ethikrat hat es verwundert, daß diese Tatsache nicht angesprochen und kein Versuch zu einer wenigstens behelfsmäßigen Lösung des Problems unternommen wurde. Zu fest verwurzelt ist der Glaube an eine Erkennbarkeit des „wahren“ Todes des Menschen. Der Herztod gilt aber ebenso wie der Hirntod nur vereinbarungsgemäß als der Tod des Menschen. Er ist tatsächlich nur ein Behelf, so unglaublich das auch klingen mag.

In bezug auf den Zeitpunkt des Todes eines Menschen hat man sich nämlich seit jeher einer praktischen und vernünftigen Lösung bedient. Man ließ diesen Zeitpunkt unbestimmt und begnügte sich zur Feststellung des Todes eines Menschen mit der Feststellung sicherer Zeichen dafür, daß der Tod bereits in der Vergangenheit eingetreten sei. Erst im nachhinein wird damit der Stillstand von Herzschlag, Kreislauf und Atmung als endgültig und irreversibel erkennbar.

Mit der künstlichen Beatmung nach einem Atemstillstand gelang es aber, die Sauerstoffversorgung des Herzens fortzusetzen und damit dessen Funktion und den Blutkreislauf in Gang zu halten. Dabei wurde der Hirntod, ebenfalls ein irreversibles Phänomen, entdeckt (und nicht etwa zur Rechtfertigung der Organ­entnahme erfunden). Der Hirntod tritt in unmittelbarem, zeitlichem Zusammenhang mit dem Versagen von Herz sowie Kreislauf ein und ist deswegen in gleicher Weise als sicheres Zeichen des zuvor eingetretenen Todes zu beurteilen.

Dieser unmittelbare zeitliche Zusammenhang kann auf zweierlei Art und Weise vorliegen. Entweder kommt es zunächst zu einem – noch reversiblen – Stillstand von Atmung und Kreislauf, der durch Sauerstoffmangel zum irreversiblen Tod des Gehirns führt. Wird dann die Atmung rechtzeitig apparativ ersetzt, dann kann das dadurch mit Sauerstoff versorgte Herz den Kreislauf und damit eine Reihe von Lebensvorgängen aufrechterhalten.

Kommt es dagegen zunächst zu einer Schädigung des Gehirns, etwa durch eine Verletzung, einen Tumor oder einen Schlaganfall, und infolge dessen zu einer Hirnschwellung mit vollständiger Drosselung der Blutzufuhr, dann stirbt das Gehirn irreversibel ab, was die Atmung stillstehen läßt. Sauerstoffmangel führt daraufhin zum Herzstillstand, der wiederum durch rechtzeitige künstliche Beatmung vermieden werden kann.

In beiden Fällen würde ohne künstliche Beatmung der Herz- und Kreislaufstillstand irreversibel, was herkömmlich als Tod gilt. Normalerweise wird allerdings nicht gefragt, ob und wieso der irreversible Herzstillstand wirklich der Tod des Menschen ist. Die Frage wäre durchaus angebracht, denn es gibt einerseits vor dem endgültigen Herzstillstand ein nicht behebbares Aufhören von Lebensvorgängen, zum Beispiel den Bewußtseinsverlust bei lange andauerndem Wachkoma.

Der verbissene Streit um den „wirklichen“ Zeitpunkt des Todes ist vergeblich, weil er sich der verbindlichen Feststellbarkeit entzieht. Es bleibt nichts anderes übrig, als dies einzusehen und den Behelf durch eine vernünftige Konvention                    zu akzeptieren.

Einzelne vertreten dazu die Ansicht, wenn „nichts mehr zu machen“ sei, also keine Therapie mehr helfe, sei der Mensch tot. Und andere wieder glauben, wenn es nach dem irreversiblen Herz- und Kreislaufstillstand überhaupt noch irgendwelche Lebensvorgänge im Körper eines Menschen gebe, und die gibt es sehr lange, dann sei der Mensch keineswegs tot. So gesehen, würde man gewöhnlich zu Lebzeiten begraben.

Es bedarf also einer Begründung dafür, weswegen man den Tod des Menschen zu diesem oder jenem Zeitpunkt annimmt. Eine solche schlüssige und unbezweifelbare Begründung gibt es aber nicht – sie müßte denn den Vorgang, daß die Seele des Menschen beim Tod den Körper verläßt, sichtbar oder sonstwie mit unseren fünf Sinnen erfahrbar machen. Sinnlich erfahrbar sind aber nur körperliche Vorgänge. Beim Sterben laufen diese kontinuierlich ab. Die Natur macht auch vom Leben in den Tod keine Sprünge: natura non facit saltus.

Die Menschen haben sich deswegen mit Konventionen über Zeitpunkte beholfen, die sie in natürliche Abläufe hineinprojizieren. So beginnt der Mensch nach deutschem Strafrecht mit dem Beginn seiner Geburt, während zivilrechtlich seine Person erst mit der Vollendung seiner Geburt entsteht, wenn er also die Geburtswege vollständig verlassen hat. Ebenso gilt der Herztod als der Tod des Menschen, obgleich sein Sterben biologisch früher einsetzt und später endet. Wenn heute in bestimmten Situationen der Hirntod als der Tod des Menschen gilt, so ist das zwar gewöhnungsbedürftig, aber keineswegs weniger begründbar als die Konvention über den Herztod.

 Beide Konventionen, die über den Herztod ebenso wie die über den Hirntod, sind allerdings vernünftig begründbar (beweisbar kann der Inhalt einer Konvention niemals sein). Sie nehmen den Todeszeitpunkt in jener Phase des Sterbeverlaufes an, in der ein steiler Abfall der Lebensvorgänge stattfindet und durch ein endgültiges Versagen sowohl der Atmung sowie der Herz- und Kreislauffunktion als auch der Hirnfunktion erkennbar gekennzeichnet ist.

Das ist vernünftig, weil es weit genug von einer Todesannahme wegen Unheilbarkeit und von einer Lebensannahme wegen restlicher Lebensvorgänge entfernt ist. Der verbissene Streit um den „wirklichen“ Zeitpunkt des Todes ist vergeblich, weil er sich der verbindlichen Feststellbarkeit entzieht. Es bleibt nichts anderes übrig, als dies in aller Bescheidenheit einzusehen und den Behelf durch eine vernünftige Konvention wie angegeben zu akzeptieren.

Das aber hätte praktische Folgen. Denn wer über diese – zugegeben schwierige – Einsicht nicht verfügt, kann einer postmortalen Organspende nicht rechtswirksam zustimmen. Wer aber die Vorteile der Transplantationsmedizin will, der muß deswegen ehrlich aufklären und kann nur dadurch Vertrauen und Zustimmung gewinnen.

Vor der Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, in deren Haus der Deutsche Ethikrat tagte, wurden gehässige Flugblätter gegen Hirntod und Organtransplantation verteilt. An diesen wurde ersichtlich, wie verbissen manche Bürger an überkommenen Todesvorstellungen festhalten – und wie tief auch letztlich die Furcht vor dem Lebendig-Begrabenwerden verwurzelt ist. Rational dagegen zu argumentieren, fällt schwer, und deswegen wird es noch lange dauern, bis eine Mehrheit der Bevölkerung für die Akzeptanz der postmortalen Organspende und des Hirntodes gewonnen wird.

 

Prof. Dr. med. Hans-Bernhard Wuermeling, Jahrgang 1927, emeritierter Lehrstuhlinhaber für Rechtsmedizin an der Universität Erlangen-Nürnberg. Zuletzt schrieb er auf dem Forum über „Gehirn-Doping“ („Naiver Optimismus“, JF 7/10).

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