© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/12 01. Juni 2012

Der Flaneur
In der Dorfkirche
Ellen Kositza

Nachmittagseinladung, außergottesdienstlich. Die Kirche ist voll, neben den Sitzplätzen stehen sie dichtgedrängt. Zu Gehör kommen Erinnerungen des längst verstorbenen Pfarrers, vorgetragen von dessen Töchtern, Enkeln und Urenkeln, dazwischen wird Musikalisches gereicht, dargeboten von begabten Musikschülerinnen. Berichtet wird, wie der Pfarrer den Nationalsozialismus durchlitt und später den Kommunismus überstand, anbei wahre Dorfgeschichten über Nächstenliebe und Verrat: sehr bewegend.

Der Pfarrerenkelin ist es ein Anliegen, abschließend den Paul-Gerhardt-Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“ vorzusingen, allerdings in gefällig-säkularer Neudichtung. Mit voller Altstimme singt sie über Mitmenschlichkeit, über Noch-auf-dem-Weg-Sein und Verwandtes. Ja, es ist schön. Durch die Reihen hinweg werden Brillen abgenommen und Taschentücher hervorgezogen.

„Der Frau entfährt ein Schluchzer, dem Mann scheint etwas ins Auge gekommen zu sein.“

Auch das Paar in den besten Jahren zu meiner Seite scheint berührt. Der Frau entfährt ein Schluchzer, aus Urtiefen herausbrechend, dem Mann scheint etwas ins Auge gekommen zu sein. Ein kathartischer Moment! Dann bricht man auf, reichlich klimpern Münzen in die an der Pforte aufgestellte Büchse. Am Gotteshaus nagt der Zahn der Zeit, die Besucher sind solidarisch und bewahrungsfreundlich beflügelt, man gibt gern in diesem Moment.

Im Pfarrgarten ist ein Buffet aufgebaut, leckere Häppchen, süß, salzig und sauer, von Gemeindefrauen gebacken oder belegt, man darf sich frei bedienen. Die Sonne scheint, man lacht die Gefühlskonzentration von sich. Direkt vor mir verläßt das ältere Paar die Kirche, sie mit zerknäultem Papiertaschentuch in der Hand. Beide waren eben noch in Geberlaune. Stößt sie ihn an: „Guck, guck! Die alte Herfurt und ihre Tochter! Immer vorne dran, das Pack, wo’s was umsonst gibt!“ Das Gesicht, gerade noch in ergebener Auflösung begriffen, ist bereits wieder zur Faust geballt.

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