© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/12 08. Juni 2012

Leben im Schatten des Vulkans
Fruchtbar für Wissenschaft, Kunst und Ackerbau: die Katastrophen am Vesuv
Sebastian Hennig

Raubgräber und Grabräuber zerstören und bergen seit je die Kostbarkeiten der vergangenen Epochen. Die zweithäufigste Ursache für die Freilegung von Altertümern besteht in großen technischen Bauvorhaben. Auf diese Weise beginnt 1592 die Geschichte der Ausgrabungen am Vesuv mit dem Fund einiger römischer Inschriften, Münzen und Geräte beim Bau des Sarnokanals. Niemand interessierte sich für den Kram. Erst ab 1748 wurden systematische Grabungen unternommen.

Nicht lange danach besuchte Fürst Franz von Anhalt-Dessau mit seinem Begleiter Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff auf seiner fürstlichen Kavalierstour die Grabungsstätten. Solche obligatorischen Reisen sollten den künftigen Regenten Weltläufigkeit verleihen und sie auf den aktuellen Stand der Mode bringen. Die gerade erst freigelegten Wand- und Deckenmalereien, Einrichtungsgegenstände übertrafen jede Erwartung. Das Gesehene zeichnerisch zu erfassen, war durch ein Verdikt des Königs von Neapel untersagt. Man hat sich schließlich mit der lizenzierten Veröffentlichung der Kupferstiche begnügt, die druckfrisch über den britischen Gesandten in Neapel, Sir Hamilton, in die fürstlichen Hände gelangten.

Daß die „Pitture antiche di Ercolano“ daheim genügend sinnliche Anhaltspunkte für die klassizistischen Bauten und Einrichtungen in Dessau-Wörlitz boten, das verdanken die Reisenden ihrem sachkundigen Begleiter Johann Joachim Winckelmann, dem eigentlichen Begründer der klassischen Archäologie. Gleich nach der Rückkehr wurden zwei Räume im Dessauer Residenzschloß nach dem Gesehenen umgestaltet. Von diesem frühesten Dokument pompejianischer Malerei in Deutschland im Dessauer Schloß ist nichts mehr erhalten. Die alliierten Bomben haben es am 8. März 1945 gründlicher zerstört als der Vesuv die römischen Vorbilder.

Aber an die Dessauer Stil-Pioniere erinnert jetzt die Ausstellung „Pompeji – Nola – Herculaneum. Katastrophen am Vesuv“ im Hallenser Landesmuseum für Vorgeschichte. Das Äußere des Museums wurde vom Architekten Wilhelm Kreis der Trierer Porta Nigra nachbildet, einem guterhaltenen römischen Stadttor aus dem 2. Jahrhundert. Neuerdings darf der Bau, der eigentlich die prähistorischen Funde der Region beherbergt, einen Inhalt einfassen, der nahezu korrekt seiner Hülle entspricht.

Bedeutende antike Schätze aus den Beständen der Altertumsverwaltung Kampaniens und des Neapeler Nationalmuseums sind in sinnvollen und sinnlichen Zusammenhängen zur Schau gestellt. Es wird ersichtlich, daß sich das Leben auf dem unruhigen Flecken Erde in besonderer Fülle entfaltete. Die Menschen aller Zeiten ließen sich weder von Ascheregen noch Bimssteinhagel davon abbringen, den fruchtbaren vulkanischen Boden zu bestellen, der drei Ernten im Jahr erlaubt. Im Jahr 79 erfolgte jener verheerende Ausbruch des Vesuvs, der für die Altertumswissenschaft so folgenreich wurde.

Kurz vor dem Eintreffen der deutschen Kavaliere 1765 waren Relikte von staunenswerter Frische zutage getreten. Erdmannsdorff berichtet von einem Isistempel: „Eine Marmorinschrift (…) besagt, daß ein Privatmann diesen Tempel, der durch Auswirkungen des Vesuvs zerstört worden war, auf eigene Kosten wiederaufgebaut hat. (…) Gleich nach der Erneuerung muß er aller Wahrscheinlichkeit nach von neuem durch die Asche, die der Berg ausgeworfen hat, zugeschüttet worden sein, daher der gute Zustand dieses Gebäudes, das den Anschein erweckt, als sei es erst kürzlich entstanden. Und da er nicht durch die Lava hinweggerafft wurde, ist alles was man ausgräbt, sehr wenig beschädigt.“

Die Statue der Isis aus dem Archäologischen Nationalmuseum Neapel steht nun in Halle, wie auch einer der Läufer von Herculaneum: Vornübergebeugt der schwarze Bronzeleib, die weißen beinernen Augen in der abwesenden Starre großer Anstrengungen befangen. Anhand erstklassiger Artefakte wird deutlich, was die Funde für unser Wissen über das Leben im Altertum bedeuten: Fast alles, was in Rom möglich und üblich war, ist auf diese Weise in Originalgröße und Originalfarbe zu uns gekommen. Bis hin zu den fliehenden oder überraschten Menschen, deren Gestalten sich als Hohlform in der verdichteten Asche erhalten haben, wie die Familie mit Kindern, die zu spät dem Verhängnis noch zu entgehen trachtet und deren forteilende, stürzende Gestalten vor uns stehen, wie sie der Tod ereilte.

Verkohlt ist der runde Brotlaib mit dem Namensstempel darauf ebenso wie das Äußere der Rollen von Papyrus, deren Abwicklung und Entzifferung heute noch möglich wäre. In einer Reihe Vitrinen im Erdgeschoß werden den römischen Relikten zeitgenössische Entsprechungen zugeordnet. Das ist ästhetisch sicher inszeniert und hat nichts Reißerisches. Wenig hat sich verändert an der Mechanik des Alltags. Revolutionen gab es nur in der Werkstoffkunde (Beinschiene des Gladiators und Schienbeinschoner des Fußballers) und der Waffentechnik (Dolch und Dienstpistole des Polizisten). Die gezeigten gynäkologischen Instrumente beispielsweise sind nahezu unverändert geblieben. Wie wäre wohl die Fundlage von Opfern, die knapp zwei Jahrtausende nach der Katastrophe wiederum in unmittelbarer Zufälligkeit in der Asche erstarrten: Eine Gesichtsbuch-Generation, die sich die Zwitschermaschinen noch fester ans Ohr preßt, um die Posaunen ihres Jüngsten Tages nicht hören zu müssen.

Die Ausstellung „Pompeji – Nola – Herculaneum. Katastrophen am Vesuv“ ist bis zum 26. August im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle, Richard-Wagner-Straße 9, täglich außer montags von 9 bis 19 Uhr zu sehen. Der Eintritt kostet 8 Euro (ermäßigt 5 Euro). Telefon: 03 45 / 52 47-363

Der Katalog mit 392 Seiten (Hirmer Verlag) kostet im Museum 29,90 Euro. www.lda-lsa.de

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