© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/12 15. Juni 2012

Offen wie ein Scheunentor
Das Schengener Abkommen für ein grenzenloses Europa funktioniert in der Praxis sowenig wie der Euro
Michael Paulwitz

Keine Demokratie ohne Staatsvolk und Staat, kein Staat ohne Grenzen. Nicht nur die Agonie der künstlichen Gemeinschaftswährung Euro deckt die Konstruktionsfehler im EU-Gebäude schonungslos auf. Auch der monatelange Streit zwischen EU-Kommission und Mitgliedstaaten über das Recht der Schengen-Regierungen zur Wiederaufnahme von Grenzkontrollen wirft ein grelles Licht darauf, daß die Politik der Brüsseler Eurokratie, die Büchsenspanner des Zentralismus im EU-Parlament eingeschlossen, im scharfen Gegensatz zu den Interessen der Nationalstaaten steht – und daß deren politische Eliten im Loyalitätskonflikt zwischen den Völkern, die sie legitimieren, und der europäischen politischen Klasse, der sie sich eigentlich zugehörig fühlen, allenfalls noch zu hinhaltendem Widerstand und zu Etappen-Abwehrsiegen fähig sind.

Nichts anderes ist nämlich die vergangene Woche mit großem Aplomb verkündete Einigung der EU-Innenminister über eine Schengen-Reform und die Zulassung von Grenzkontrollen als „letztes Mittel“, wenn ein anderes Mitgliedsland die Außengrenze nicht mehr sichern kann. Tatsächlich nämlich haben die EU-Innenminister lediglich eine Kommissionsvorlage entschärft, die die im ursprünglichen Schengen-Vertrag noch festgeschriebenen nationalen Vorbehalte kassieren und die Entscheidung über zeitlich befristete Grenzkontrollen ganz den EU-Kommissaren übertragen wollte.

Daß es in dieser Frage ums Eingemachte der nationalen Souveränität geht, hat selbst Bundesinnenminister Friedrich gemerkt: In letzter Instanz sind die Nationalstaaten verantwortlich für die Sicherheit ihrer Bürger. Und wenn man ihnen die Hände auf den Rücken bindet und sie zwingt, die Haustüre offenzulassen, müssen sie hilflos ausbaden, was anderswo für sie angerichtet wird, und können nur darauf vertrauen, daß die anderen sich doch irgendwie an die Regeln halten.

Der Massenexodus aus Nordafrika und die seit Jahren rapide ansteigende Zahl der Asylbewerber im EU-Raum hat den europäischen Regierungen drastisch vor Augen geführt, daß das im Ernstfall nur bedingt funktioniert. Die südeuropäischen Mittelmeeranrainer sind nur mäßig daran interessiert, den nördlichen Nachbarn die unangenehme Arbeit der Abwehr illegaler Einwanderung in die Sozialsysteme abzunehmen, und winken die anlandenden Flüchtlingsheere im Zweifelsfall lieber gleich ins gelobte Land durch. Und das bankrotte Griechenland, das sich potentielle Kostgänger durch ruppige Behandlung und karge Versorgung vom Hals hält, hat die Kontrolle seiner Außengrenze zur Türkei schon vor Monaten praktisch ganz eingestellt.

75 Prozent der im letzten Quartal 2011 sprunghaft nach oben geschnellten illegalen Grenzübertritte in die EU finden inzwischen durch dieses offene Scheunentor statt. Die weitgehend wirkungslosen Aktivitäten der europäischen Grenzschutzagentur „Frontex“ sind da offenkundig kaum mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.

Dennoch setzen auch die EU-Innenminister in erster Linie auf diese Institution, die sich nicht bewährt hat; erst „wenn alle Stricke reißen“, sollen im Notfall die Grenzen geschlossen werden können. Das Verfahren erinnert an die endlose Geschichte von der Euro-Rettung: Man schafft am grünen Tisch neue supranationale Strukturen; wenn es nicht funktioniert, weil die Interessen der beteiligten Staaten zu unterschiedlich sind, ruft man nach „mehr Europa“ verschärft das die Probleme voraussehbar weiter, setzt man immer noch einen obendrauf. Vollends zum Schelmenstück wird die Schengen-Reform, sollten die Innenminister dem Geniestreich zustimmen, die Türkei zur Rücknahme von über ihr Territorium in die EU illegal eingereisten Einwanderern zu bewegen, indem man ihren Bürgern im Gegenzug Visafreiheit gewährt. Gegen die dadurch in Gang gesetzte Migrationswelle wären wohl selbst die Nachbeben des sogenannten „Arabischen Frühlings“ nur ein laues Lüftchen.

Den Brüsseler Kommissaren käme wohl auch das gerade recht. Die Agenda der Eurokraten zielt schließlich auf vielen Ebenen auf die Entmündigung und letztlich die Auflösung der Nationalstaaten, um einen globalisierten Einheitsraum mit Einheitsbevölkerung herzustellen. Den Bürgern wird das mit scheinbar harmlosen Ablenkungshäppchen schmackhaft gemacht: Schaut her, ihr könnt überall hinfahren, ohne Geld umzutauschen – erst wenn der Zug abgefahren ist, werdet ihr merken, daß am Zielbahnhof der europäische Superstaat mit Banken-, Fiskal- und politischer Union wartet, in dem nicht mehr die von euch gewählten Abgeordneten, sondern anonyme Kungelrunden bestimmen, wo euer sauer verdientes Geld hingeht. Eben noch habt ihr euch ganz harmlos darüber gefreut, bei Auslandsreisen keinen Paß mehr vorzeigen zu müssen; erst viel später wird euch aufgehen, daß illegale Einwanderer, Kriminelle oder fahrende Glücksritter, die sich an den von euch finanzierten Sozialsystemen gütlich tun wollen, das auch nicht müssen und daß kein anderer euch davor beschützt, wenn euer eigener Staat freiwillig die Waffen dazu aus den Händen gelegt hat.

Ständige Kontrollen an den Grenzen sind eine der wirksamsten Waffen souveräner Staaten gegen Kriminalität und illegale Einwanderung. Durch bilaterale Zusammenarbeit benachbarter Staaten kann sie sogar noch schärfer werden; legt man sie aber ganz aus der Hand und überläßt sie internationalen Behörden oder anderen Ländern, wird sie stumpf. Die europäischen Grundfreiheiten stehen zur Wahrung wohlverstandener nationaler Interessen nicht im Widerspruch – Freizügigkeit geht auch mit Grenzkontrollen. Die Bürger Europas sollten sich von den falschen Alternativen der Euromanen nicht einlullen lassen, sondern von ihren Regierungen verlangen, sich die Souveränität über die Grenzen ihrer Staaten wieder zurückzuholen.

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