© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/12 15. Juni 2012

Grün-rote Axt am Bildungssystem
Baden-Württemberg: Landesregierung setzt auf die Gemeinschaftsschule und entwertet das Gymnasium
Volker Kempf

Die Grünen in Baden-Württemberg dürfen sich glücklich schätzen: Die Reaktorkatastrophe in Fukushima hatte ihnen Anfang vergangenen Jahres Rückenwind auf dem Weg in die Regierungsverantwortung gegeben, Winfried Kretschmann wurde Ministerpräsident. Schon im Landtagswahlprogramm ließen die Grüne keinen Zweifel, daß ihnen neben der Energiewende der Umbau der Bildungslandschaft das wichtigste Ziel ist. Die Energiewende bringt dem Land Tausende neue Windräder. Diese können leicht wieder demontiert werden, wenn sich die Erkenntnis durchsetzen sollte, daß das übertrieben war.

Im Bildungssektor stellt sich die Lage anders dar. Jedes Kind hat nur einen Bildungsweg, rückgängig machen läßt sich nichts, aber viel kaputtreformieren. Baden-Württemberg ist im nationalen Bildungsvergleich bislang immer in der Spitzengruppe gewesen. Warum sollte da das Rad neu erfunden werden? Ganz einfach, damit Baden-Württemberg auch weiter einen „Spitzenplatz“ einnehme. Woher diese Selbstgewißheit? Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht irgendeine Reform des Bildungswesens für Begeisterung sorgen soll. So ist Kultusministerin Gabriele Warminski-Leitheußer (SPD) seit neuestem Feuer und Flamme für die Idee der Einführung eines Schulfaches „Glück“.

Die Grünen und die SPD sehen sich vor allem selbst als einen Glücksfall. Das dreigliedrige Schulsystem Baden-Württembergs werde nun endlich Schritt um Schritt aufgelöst. Damit sei mehr Glück verbunden, nämlich weniger Streß und mehr Gleichheit für alle. Was die einen Differenzierung im Bildungssektor nennen, um sich besser auf unterschiedliche Leistungsgruppen einstellen zu können, liest sich bei den Grünen abfällig als altbackenes „Schubladendenken“. Das Ideal der grün-roten Koalition ist die Gemeinschaftsschule. Daß die sehr ähnlichen Gesamtschulen in Bildungsvergleichstests immer relativ schlecht abschnitten, wie der Deutsche Lehrerverband herausstreicht, paßt da nicht ins Konzept, es wird einfach das Gegenteil behauptet. Daß die Länder, in denen Gesamtschulen und ähnliche Schultypen weit verbreitet sind, im nationalen Bildungsvergleich wie auch wirtschaftlich relativ schlecht dastehen, dieser Widerspruch bleibt unerwähnt.

Etwa 40 Städte und Gemeinden haben in Baden-Württemberg für das kommende Schuljahr erfolgreich einen Antrag gestellt, Gemeinschaftsschulen einzurichten. Dabei spielt auch eine Rolle, daß etliche Schulen im Land mangels Schüler schließen müßten, wenn sie nicht Gemeinschaftsschulen würden.

Eine besonders einschneidende Bildungsreform bedeutet die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung. Der Grundgedanke, die Eigenverantwortung der Eltern für ihre Kinder zu stärken, ist dabei das stärkste Argument. Aber wie so oft bei einer Reform, unterliegt auch diese einer Dialektik, die hier als politisch gewollt ins Kalkül einbezogen wird. Denn ohne verbindliche Grundschulempfehlung werden Eltern eher dazu neigen, ihre Kinder statt etwa auf die empfohlene Realschule auf ein Gymnasium zu bringen. In der Tagespresse wurde dieses Problem oft beschwichtigt. Die Eltern seien so vernünftig und würden fast immer auf die Empfehlungen der Lehrer hören, außer in vielleicht berechtigten Ausnahmefällen. Die allmählich durchsickernden Zahlen sprechen eine andere Sprache. In Freiburg etwa werden im neuen Schuljahr sieben Prozent mehr Schüler auf ein Gymnasium kommen als im Schuljahr zuvor, obwohl die Gesamtzahl des Schülerjahrganges um acht Prozent zurückging. Damit werden es in der Breisgaumetropole über 60 Prozent der Grundschulabgänger sein, die ein Gymnasium besuchen, soviel wie nie zuvor. Im Landesschnitt sind es bislang zwar „nur“ 44 Prozent, aber die Tendenz ist vergleichbar. Auf die Haupt- und Werkrealschulen schicken dagegen nur wenige Eltern ihre Kinder. Die Realschulen erhalten von hier entsprechend Zulauf und kompensieren damit ihren Aderlaß in Richtung Gymnasien.

Damit der Bildungsumbau für die Landesregierung nicht zum Desaster wird, hat sie ein Interesse daran, möglichst viele Schüler dort zu halten, wo sie gemäß Empfehlung nie hingekommen wären. Das wird auf verschiedene Weisen geschehen. Erstens wird der sogenannte Klassenteiler, also die maximale Anzahl von Schülern in einer Klasse, von 31 auf 30 gesenkt, was nach Angaben des Kultusministeriums 800 neue Lehrerstellen mit sich bringt. Zweitens werden die Lehrpläne abgespeckt. Drittens wird es neben dem bestehenden achtjährigen auch wieder neunjährige Gymnasien geben. Auch werden mehr Pädagogen und Schulpsychologen zum Einsatz kommen. Wer bei all diesem Entgegenkommen und Mehraufwand auf einem Gymnasium nicht gehalten werden kann, kann dann noch immer auf eine Gemeinschaftsschule wechseln. Das hätte Auswirkungen vor allem für die Statistik, da solch ein Wechsel nur einer zwischen gleichwertig klassifizierten Schulen wäre. Entsprechendes gilt für die Realschulen. Die Haupt- und Werkrealschulen werden hingegen immer weniger. Ein zweigliedriges Schulsystem mit Tendenz zur Gemeinschaftsschule ist die Folge.

Alles, was Bildung in ihrer bewährten Form erfordert, nämlich Vielfalt, Anstrengungsbereitschaft und das Risiko des Scheiterns, wird von der grün-roten Landesregierung durch Reformen systematisch unterlaufen. Von Demokratie wird hierbei viel gesprochen. Aber die Voraussetzung von Demokratie ist die Meinungsvielfalt. Diese gründet in den Familien und ihren unterschiedlichen seelisch-geistigen Einstellungen. Genau hier versuchen die Grünen in Baden-Württemberg die Axt anzusetzen, wenn sie laut Programm als weiteres Ziel die Bildung ab dem ersten Lebensjahr in die Hände guter Pädagogen legen wollen. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, mahnt bei so viel Umgestaltungswillen: „Mal keine Reform, das wäre einmal eine sinnvolle mReform.“

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