© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/12 15. Juni 2012

Den Sonderweg in die Gegenwart verlängern
Börne-Preisträger Götz Aly und die Manifestierung deutscher Schuld für mehrere tausend Jahre
Thorsten Hinz

Götz Aly ist das deutsche Pendant zu Daniel J. Goldhagen. Der meinte, herausgefunden zu haben, daß die Deutschen sich kollektiv als „Hitlers willige Vollstrecker“ auf die europäischen Juden gestürzt hätten. Doch woher entsprang ihr „eliminatorischer Antisemitismus“? Götz Aly weiß die Antwort: In seinem neuesten Buch „Warum die Deutschen? Warum die Juden?“ stellt er die Deutschen als ein Volk von einig’ Neidern dar, die den Juden ihren wirtschaftlichen Erfolg und gesellschaftlichen Aufstieg mißgönnten. In der Schweizer Zeitschrift Monat benennt er die „verhaltene Mißgunst“ der Deutschen als „die eigentliche Grundlage für Auschwitz“.

Ein typisches Feuilleton-Geschwätz, doch in Deutschland liefert es die Vorlage für ausgedehnte Debatten. Da nutzt es nichts, wenn man Aly Klitterungen, Weglassungen, Verkürzungen, die Moralisierung der Geschichte und hermeneutisches Unvermögen nachweist.

Laut Aly entzündete der deutsche Neid sich unter anderem am hohen jüdischen Anteil in der Ärzteschaft. Der Historiker Konrad Löw hat eingewendet, daß Arztpraxen sich nur betreiben lassen, wenn sie Patientenzulauf haben. Das war offensichtlich der Fall und bedeutet, daß die vorwiegend nichtjüdischen Patienten Vertrauen zu den jüdischen Medizinern gefaßt hatten. Er zitiert aus dem Tagebuch einer jüdischen Ärztin, der 1933 die Kassenzulassung entzogen wurde. Ihre Wohnung glich daraufhin einem „blühenden Garten. Abschiedsblumen“. Doch Löws Erwiderung kann nur in einem Privatdruck erscheinen („Die Fragen aller Fragen“), während Aly alle großen Medien offenstehen.

In der FAZ bringt er zur Charakterisierung der Deutschen in nur drei Sätzen folgende Vokabeln unter: Sozialneid, Mißgunst, Gefühl eigener Schwäche, Judenhaß, unbeholfene christliche Studenten, wenig innovative Unternehmer, Versagerangst, abschließend heißt es, der deutsche „Neid- und Sozialantisemitismus“ habe sich „zur Rasseverleumdung weiterentwickelt, und die individuellen Versager erklärten sich zum superioren Volkskollektiv“.

Aly hyperventiliert. Er versucht nicht nur, sein Ressentiment zu rationalisieren, er will auch die Identität wechseln und aus der deutschen in eine veredelte jüdische schlüpfen. Mit dem Ergebnis, daß er die Leidenschaften, die er den Deutschen vorwirft, unter veränderten Vorzeichen selber auslebt.

Dafür wurde ihm nun der Börne-Preis zuerkannt. Sein Laudator Jens Jessen – jener Feuilleton-Chef der Zeit, der 2008 den Überfall zweier ausländischer Jugendlicher auf einen 76jährigen Deutschen mit der perfiden Äußerung kommentierte, die deutschen Rentner machten den jungen Ausländern nun einmal das Leben zur Hölle –, nutzte die Gelegenheit, dem eigenen Groll freien Lauf zu lassen und den Durchschnittdeutschen als Triebkraft und Nutznießer der Ausgrenzung, Enteignung und Ermordung der Juden anzuprangern. Aly habe eine „soziologische Revision unserer Geschichtspolitik“ vorgenommen. Der bundesdeutsche Wohlstand, gibt Jessen zu verstehen, nähre sich aus den Zinsen des Holocaust. „Die Schuld“ sei daher „um uns und in uns. Niemand ist auf der sicheren Seite.“ Nach Jessens Berechnung währt sie noch mehrere tausend Jahre.

Empirisch ist das natürlich Unsinn. Deutschland war 1945 zerstört, verstümmelt, geteilt, seiner Guthaben und Patente beraubt und mit riesigen Reparationen belastet. Sein Wirtschaftswunder generierte es selbst. Aly und Jessen wärmen die These eines negativen deutschen „Sonderwegs“ auf, der logischerweise ein verbindliches Schema vom Verlauf der Geschichte voraussetzt. Die Marxisten erblickten ihr teleologisches Endziel im Kommunismus, die Liberalen in einer weltweiten Verbreitung des Westens. Von diesem Königsweg sei Deutschland wegen innerer Defekte abgewichen. Die These hatte zwar keine wissenschaftliche, dafür aber die politische, soziale und gesellschaftliche Plausibilität für sich: Die „vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik zur politischen Kultur des Westens“ (Jürgen Habermas), welche die Übernahme sämtlicher Negativ-Zuschreibungen an Deutschland einschloß, versprach Frieden, Wohlstand und das Wohlwollen des Auslands.

Nun gilt es, diese ideologische Grundlage der Bundesrepublik im Angesicht des absehbaren Wohlstandsverlustes neu zu zementieren. Dazu wird der vermeintliche Sonderweg bis in die Gegenwart verlängert. Weil der wirtschaftliche und soziale Vorteil Deutschlands auf einer historischen Schuld beruhe, hätten die Deutschen kein Recht, sich über ihre Enteignung durch die Eurokraten und die Hochfinanz zu beschweren, so die implizite Aussage. Was Aly und Jessen bieten, ist die metaphyselnde Begleitmusik zur europäischen Transferunion.

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