© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/12 22. Juni 2012

„Ich bitte um Verzeihung“
Die frühe Zeit alliierter Besatzung war auch geprägt von Menschenrechtsverletzungen an Deutschen. Eine Entschuldigung für diese verdrängten Verbrechen gab es nie. Ein ehemaliger US-Major will das Schweigen brechen. Die „Rheinwiesenlager“ haben ihn erschüttert.
Moritz Schwarz

Herr Drucker, Sie wollen sich entschuldigen?

Drucker: Ja, ich bitte das deutsche Volk um Verzeihung.

Sie haben deshalb sogar an die US-Regierung geschrieben.

Drucker: Ich habe darum gebeten, offiziell gegenüber Deutschland eine Entschuldigung abzugeben.

Haben Sie eine Antwort bekommen?

Drucker: Leider nein, nur quasi eine Empfangsbestätigung, keine inhaltliche Stellungnahme. Ich habe mich übrigens auch an den deutschen Botschafter in den USA gewandt, von dem ich aber leider gar keine Reaktion erhalten habe.

Warum?

Drucker: Ich weiß es nicht.

Was vermuten Sie?

Drucker: Ich vermute, daß das Thema Rheinwiesenlager einfach zu brisant ist für das deutsch-amerikanische Verhältnis und beide Seiten eigentlich ganz zufrieden damit sind, nicht daran zu rühren.

Sind Sie enttäuscht?

Drucker: Ein wenig schon, obwohl ich natürlich damit gerechnet habe.

Warum wollen Sie sich eigentlich entschuldigen?

Drucker: Weil ich während meiner Stationierungszeit als US-Offizier in Deutschland erfahren habe, was damals geschehen ist. Heute glaube ich, daß es gerecht und notwendig ist, sich bei den Deutschen dafür zu entschuldigen.

Aber warum Sie? Sie waren damals weder beteiligt noch sind Sie die US-Regierung.

Drucker: Das ist richtig. Aber ich habe etwas Philosophie und Völkerrecht studiert. Ich glaube, daß es sehr wichtig ist, daß sich Nationen, wenn sie Krieg führen, an Regeln halten, und es hat nie eine Untersuchung über die Rheinwiesenlager gegeben, weder von amerikanischer noch von deutscher Seite. Mir ist natürlich völlig klar, daß ich nur ein Privatmann bin und nicht für die USA sprechen kann. Aber ich vergesse die Worte des älteren Deutschen nicht, die er damals so zornig zu mir sprach und mit denen für mich alles begann: „Ich war in Rheinberg.“

Kaum ein Deutscher kann heute damit etwas anfangen.

Drucker: Das ging mir damals genauso, als ich im Herbst 1987 in die Lüneburger Heide kam. Ich sollte als leitender Offizier die aus einem Nato-Manöver zurückkehrenden US-Soldaten betreuen und wurde dafür zum Bundeswehrstandort Trauen bei Munster abkommandiert. Dort lernte ich etliche Deutsche kennen, einer war Otto Stover. Ich verstand erst nicht, was er damit meinte, in Rheinberg gewesen zu sein, denn soweit ich wußte, gab es dort keinen Bundeswehrstandort. Dann aber begann er zu erzählen.

Bei Rheinberg am Niederrhein war eines der unter dem Oberbegriff „Rheinwiesenlager“ bekanntgewordenen US-Lager für Kriegsgefangene der Wehrmacht.

Drucker: Über sieben Millionen Mann wurden ab 1945 in amerikanischen und französischen Lagern in ganz Nordwest-Europa auf Monate interniert, Soldaten, Reichsarbeitsdienst, Hitlerjungen und Zivilisten, die vielleicht zufällig einen Armeemantel trugen. Im geheimen und im Widerspruch zum Völkerrecht wurden diese Gefangenen zu „entwaffneten feindlichen Streitkräften“ erklärt.

Warum?

Drucker: Das ermöglichte, ihnen ihre Rechte gemäß der Genfer Konvention zu verweigern. So konnte etwa das Rote Kreuz die Lager nicht mehr inspizieren.

Aber warum haben die US-Streitkräfte das gemacht?

Drucker: Es ist mir wichtig, klarzustellen, daß das nicht auf Initiative der Armee geschah – sondern der Politik. Warum? Nun, ich glaube, dies entsprang dem Wunsch nach Vergeltung, nach Bestrafung und Rache an den Deutschen.

Sie „glauben“?

Drucker: Nachdem ich mich intensiv mit den Rheinwiesenlagern beschäftigt habe, ist dies meine vermutete Erklärung – belegen läßt sich dies jedoch nicht. Tatsache aber ist, daß die Versorgung in den Lagern völlig unzureichend war, daß es für die meisten Insassen keine Unterkünfte gab, ebenso kaum sanitäre Einrichtungen, kaum medizinische Betreuung, ja sogar zuwenig Trinkwasser. Täglich aber kamen Tausende Neuankömmlinge per Lastwagen in die überfüllten Lager. Unglücklicherweise war zudem das Wetter kalt und naß und bald glichen die Lager riesigen Schlammseen. Die Häftlinge gruben aus Verzweiflung Erdlöcher, weil sie sonst keinen Schutz fanden. Cholera und Typhus breiteten sich aus, Tausende starben an Krankheiten, Unterernährung, der Witterung und an seelischem Zusammenbruch.

Es heißt, die US-Armee war auf die Vielzahl von Gefangenen nicht vorbereitet und sei daher nicht in der Lage gewesen, im verwüsteten Deutschland genug Versorgungsgüter aufzutreiben.

Drucker: Ich widerspreche! Zum einen läßt es sich durchaus belegen, daß man in der Lage gewesen wäre, auch eine so große Zahl von Gefangenen zu versorgen. Etwa unter anderem auch mit Material aus Beständen der Wehrmacht. Zum anderen hätte man ja keineswegs so viele Menschen so lange gefangenhalten müssen, wenn klar ist, daß man sie gar nicht versorgen kann. Nehmen Sie etwa den bekannten US-General George Patton: Der entließ seine Gefangenen einfach recht zügig. Überhaupt hätte die Wehrmacht auch ohne diese Lager demobilisiert werden können.

War das Sterben im Lager erwünscht oder war es den Verantwortlichen einfach egal?

Drucker: Tja, eine sehr heikle Frage.

Der kanadische Autor James Bacque veröffentlichte 1989 ein Buch über die Rheinwiesenlager, dessen deutscher Titel „Der geplante Tod“ lautet.

Drucker: Nun, wie weit ging dieser Wunsch nach Rache? Tatsache ist, daß es zum Beispiel der deutschen Bevölkerung verboten wurde, die Lagerinsassen zu versorgen. Oder daß deutsche Verwundete aus Hospitälern in die Lager verlegt wurden, obwohl sie dort nicht entsprechend versorgt werden konnten.

Historiker kommen zu dem Schluß, die Behauptungen Bacques ließen sich nicht belegen: Von einem „geplanten Tod“ könne keine Rede sein – zumal sein Buch im Englischen einen ganz anderen Titel hat.

Drucker: Das ist einer der Gründe, warum ich eine Untersuchung fordere.

Es heißt, die Zahl der Todesopfer, die auf zehn- bis vierzigtausend geschätzt werden, sei keineswegs überdurchschnittlich.

Drucker: Dieses Argument finde ich bizarr. Allen, die glauben, es handle sich um natürliche Sterbeziffern, empfehle ich, im Frühjahr mal drei Monate ununterbrochen im Freien zu hausen, ohne ausreichend versorgt zu werden. Mal sehen, ob sie danach immer noch solche Ansichten vertreten.

Ähnlich wie Bacque, gehen Sie von einer enorm hohen Opferzahl von 750.000 Toten aus. Historiker weisen das klar zurück.

Drucker: Bevor sie das tun, sollten sie lieber ihre Arbeit machen und versuchen, die tatsächlichen Zahlen ordentlich zu ermitteln, statt Schätzungen abzugeben, die keine realistische Grundlage haben.

Herr Bacque ist selbst allerdings lediglich Publizist, kein Historiker.

Drucker: Was wollen Sie damit sagen?

Er mag persönlich integer sein, aber er ist nicht vom Fach.

Drucker: Ich halte James Bacque absolut für fähig, die Dokumente, die er gesichtet hat, korrekt auszuwerten, da habe ich keine Zweifel.

Fürchten Sie nicht, Ihr Bemühen um eine öffentliche Entschuldigung Ihrer Regierung zu entwerten, wenn Sie von Opferzahlen ausgehen, für die es nach Ansicht von Historikern keine Belege gibt?

Drucker: Andersherum: Es gibt offenbar gar kein Interesse, die wahren Op-ferzahlen zu klären, das ist doch seltsam.

1987 stießen Sie auf das Thema, aber erst 2011 haben Sie Ihre Entschuldigung an die Deutschen formuliert, die dann im Nachrichtenmagazin „Focus“ erschienen ist.

Drucker: Für mich setzte sich das Bild ja erst nach und nach zusammen. Zum Beispiel fuhr ich nach meiner Begegnung mit Otto Stover nach Rheinberg und fand dort ein Mahnmal für 3.000 umgekommene deutsche Soldaten – was ich seltsam fand, denn in Rheinberg hatte es im Krieg gar keine Kämpfe gegeben. Dann las ich so um 1990 Bacques Buch und erst da wurde mir klar, daß Rheinberg nur Teil einer weit größeren Angelegenheit war. Allerdings, ich verlor das Thema wieder aus den Augen.

Warum?

Drucker: Na ja, Sie wissen doch vielleicht, wie das ist, die Arbeit, das Leben, der Alltag, tausend Dinge, die einen ablenken. Schließlich ruhte das Thema für Jahre, erst 2011 holte es mich wieder ein.

Wie das?

Drucker: Ich weiß nicht, es kam wieder.

Im Oktober 2011 haben Sie versucht, die Öffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren, indem Sie in einem Konferenzraum in einem Washingtoner Hotel Ihre Entschuldigung „offiziell“ verlesen haben.

Drucker: Ja, denn die meisten Amerikaner wissen nichts über die Zeit der US-Besatzung in Deutschland. Wir haben gesiegt, dann kam die Besatzung und dann die Berlin-Blockade mit der Luftbrücke. Diese Jahre dazwischen sind so etwas wie eine Leerstelle. Kaum ein Amerikaner weiß, daß dies eine Zeit des Hungers und der Not für die Deutschen war. Sie wissen nichts über die Millionen Ost-Flüchtlinge, nichts über die Einschränkung von Presse- und Meinungsfreiheit unter der alliierten Militärregierung und nichts über die Rheinwiesenlager.

Es kam auch anderweitig zu Verbrechen und Grausamkeiten der US-Truppen nach Kriegsende in Deutschland.

Drucker: Ja, auch damit beschäftige ich mich inzwischen. Auf der einen Seite haben unsere Soldaten sehr hart und tapfer gekämpft, um das Dritte Reich zu erobern, und sie haben einen hohen Preis bezahlt. Auf der anderen Seite haben manche von ihnen sich anschließend sehr schlecht benommen – ebenso wie Soldaten anderer Mächte, einschließlich Deutschlands. Aber es stimmt, die Zeit der US-Besatzung war auch eine Zeit der Rechtlosigkeit der Deutschen und eine Zeit auch von Verbrechen und Grausamkeiten, die leider ebenfalls von amerikanischen Soldaten verübt wurden.

Wie reagieren Amerikaner, denen Sie davon erzählen?

Drucker: Man ist erstaunt und hört zu.

Sie werden nicht der Lüge bezichtigt?

Drucker: Das ist mir nicht passiert.

Kein Vorwurf, Sie schmälerten den Ruhm der US-Armee mit „Greuelpropaganda“.

Drucker: Nein.

Was haben Sie selbst empfunden, als Ihnen klar wurde, daß US-Truppen in Deutschland auch an Verbrechen beteiligt waren?

Drucker: Ich war geschockt und enttäuscht. Heute ist mir klar, daß sich die US-Armee mit ihrer Geschichte auseinandersetzen sollte – ich meine mit ihrer realen Geschichte, nicht mit der Mythologie. Und ebenso mit dem Thema Menschenrechte und den Auswirkungen ihrer Kriegsführung auf die Zivilbevölkerung und auch auf die Umwelt.

Ziehen Sie Parallelen zu heutigen Kriegen?

Drucker: Gute Frage. Auf der einen Seite haben wir die im Irak 2003 gemachten Kriegsgefangenen korrekt behandelt. Auf der anderen Seite aber gab es später den Fall Abu Ghraib. Das zeigt, daß unsere Armee lernen muß, noch viel sensibler in Sachen Menschenrechte zu werden.

In Deutschland stößt Ihre Initiative bei offizieller Seite auf völliges Desinteresse.

Drucker: Es ist bedauerlich – überhaupt, daß die Deutschen sich so wenig für ihre eigenen Opfer von damals interessieren. Ich meine auch, die deutschen Soldaten haben im Zweiten Weltkrieg tapfer für ihr Land gekämpft und haben ein ehrendes Andenken verdient.

Gerne betonen Sie Ihre Distanz zu „rechtsradikalen“ Gedanken. In Deutschland gilt allerdings eine Haltung wie die Ihre durchaus als latent „rechtsradikal“.

Drucker: Es stimmt, diese Distanz ist mir sehr wichtig. Aber dieser Verdacht ist Unsinn. Wenn ich Deutscher wäre, dann wäre ich politisch wohl am ehesten so etwas wie ein Grüner.

Sind Sie heute Pazifist?

Drucker: Nein, ich meine, alle Nationen haben das Recht, sich zu verteidigen. Denn wenn wir für unsere Rechte notfalls nicht auch zur Waffe zu greifen können, dann sind diese Rechte nichts wert. Aber wir sollten uns Mühe geben, Kriege zu vermeiden und wenn wir sie führen, dies verantwortungsbewußt tun.

Dann sind Sie auch heute noch stolz darauf, Uniform getragen zu haben?

Drucker: Ich habe meinem Land und meiner Armee ehrenvoll gedient und bin stolz, ehemaliger Soldat zu sein. Und ich meine, zu meinen patriotischen Pflichten gegenüber den USA gehört es auch, dazu beizutragen, daß das Unrecht, das einst durch die USA an den Deutschen begangen wurde, beim Namen genannt wird. Und daß wir uns dafür entschuldigen, um die Gerechtigkeit und damit auch die Ehre der USA in dieser Frage wiederherzustellen.

 

Merrit Drucker, der ehemalige Fallschirmjäger, Jahrgang 1951, und Major der US-Armee mit Studienabschlüssen in Psychologie, Philosophie und Management, ist heute Abteilungsleiter in der Verwaltung der US-Hauptstadt Washington. Bekannt wurde er, als das Nachrichtenmagazin Focus Ende 2011 seine Entschuldigung an die Deutschen ganzseitig abdruckte. Darin spricht er über das lange beschwiegene Kapitel der Rheinwiesenlager, einem Teil der alliierten Kriegsgefangenenlager, in denen etwa eine Million Deutsche interniert waren. Drucker beschreibt die Lage dort unter anderem so: „Die Situation bedeutete einen völligen Rechtsverlust ... Lebensrettende Rotkreuz-Pakete kamen nicht an, Postverkehr war verboten. Angehörige erhielten keine Nachricht. Ortsansässige durften die Gefangenen nicht verpflegen ... Diese wurden nicht registriert und Todesfälle und Begräbnisorte nicht verzeichnet.“ Und er resümiert: „Dem deutschen Volk spreche ich meine Entschuldigung aus und erinnere daran, daß auch seine ehemaligen Kriegsteilnehmer die Erinnerung verdienen, die tapferen Soldaten gebührt.“

Foto: Alliiertes Kriegsgefangenenlager Sinzig/Mittelrhein, 1945: „Gefangene gruben aus Verzweiflung Erdlöcher ... Es war eine Zeit der Rechtlosigkeit.“

 

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