© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/12 22. Juni 2012

„Eine wunderbare Geste“
Rheinwiesenlager: Ein amerikanischer Offizier entschuldigt sich in Rheinberg für die Verbrechen der amerikanischen Besatzungsmacht
Henning Hoffgaard

Rheinberg im Juni 1945: Der Regen will nicht aufhören. 130.000 deutsche Kriegsgefangene fristen allein in den Lagern rund um die verschlafene Kleinstadt westlich des Ruhrgebiets, nicht weit von der niederländischen Grenze, ein trostloses Dasein. Hunger, Kälte und schießwütige amerikanische Soldaten bestimmen den Alltag. Sie sind zwischen neun und achtzig Jahre alt. Hunderttausende werden, schlecht versorgt und ohne Unterkünfte, von den amerikanischen Besatzungstruppen in den sogenannten „Rheinwiesenlagern“ ohne Rechte festgehalten. Tausende überleben die Tortur nicht und verhungern entlang der blühenden Felder des Rheintals.

Rheinberg im Juni 2012: Eine kleine Schar von Veteranen und ehemaligen Kriegsgefangenen hat sich am Gedenkstein für das Lager eingefunden. Es sind knapp dreißig gekommen. Die meisten anderen sind tot oder zu schwach für die Reise in die Dreißigtausend-Seelen-Gemeinde. Schweigen. Dann betritt Merrit Drucker (Interview auf Seite 3) den Rasen vor dem Gedenkstein. Er wirkt ruhig und gefaßt. Er sagt die Worte, auf die fast alle hier sehnsüchtig gewartet haben: „Ich bin aus Amerika gekommen, um Ihnen meine Entschuldigung auszusprechen.“ Es sind bewegende Szenen. Vielen der weit über achtzigjährigen Anwesenden stehen Tränen in den Augen. Es ist, als ob eine jahrzehntelange Last von ihren Schultern fällt. All die Jahre des Vergessens und Verdrängens finden ihr Ende. Die meisten haben genug durchgemacht, daß es für zwei Leben reicht.

Auch Ernst Könnicker. Er sitzt etwas abseits, wirkt ein wenig verloren. Langsam beugt er sich nach unten, um sein bordeauxrotes Fallschirmjäger-Barett vom Boden aufzuheben. Vergebens. Der Körper kann nicht mehr. Schnell eilt ihm seine Frau zu Hilfe und reicht ihm das Barett. Der 92jährige lächelt schelmisch und salutiert ihr zu. Er hat alles mitgemacht: Kreta, Ostfront und die Schlacht um Frankreich 1944. Ruhig, mit brüchiger Stimme erzählt er, wie er 1943 den abgesetzten italienischen Diktator Benito Mussolini mit anderen Fallschirmjägern aus der Gefangenschaft befreite.

In Frankreich wird er schließlich gefangengenommen und nach Colorado gebracht. Ihm ging es dort besser, sagt er, als seinen Kameraden in den Rheinwiesenlagern. Er ist gekommen, um ihr Andenken zu ehren. Was er von Druckers Entschuldigung hält? Eine „wunderbare Geste“. Sie alle hätten damals nur ihre Pflicht getan. Und dennoch sei eine ganze Generation von Hitler verraten worden.

„Wir waren bitter enttäuscht über das, was in unserem Namen getan wurde.“ Die Stimme versagt. Könnicker will den Worten von Rheinbergs Bürgermeister Hans-Theo Mennicken lauschen. Auch der will sprechen und enttäuscht die Anwesenden maßlos. Kaum ein Wort zu den von den Amerikanern begangenen Verbrechen in der Umgebung seiner Stadt. Er preist in einer lieblos gehaltenen Rede die Gedenkpolitik der Stadt und macht die Nationalsozialisten für die toten deutschen Kriegsgefangenen verantwortlich. „Unangemessen“ sei das, schimpft die Ehefrau eines früheren Häftlings. Der falsche Ort, der falsche Zeitpunkt, die falschen Worte. Mennicken hat es einfach nicht verstanden.

Daß der Bürgermeister dann auch recht schnell das Weite sucht, stört kaum einen Anwesenden. Auch nicht Alfred Zips. Er hat die Veranstaltung organisiert, den Kontakt zu Drucker hergestellt und auch James Bacque eingeladen. Bacque hatte als einer der ersten über die Rheinwiesenlager geschrieben. Zips ist zufrieden. „Was hier passiert, ist eine Sensation!“ Der schneidige ehemalige Berufssoldat der Bundeswehr hat lange auf diesen Tag hingearbeitet. Ihm geht es nicht um Schuld und Anklage. Er will versöhnen. Die Veteranen mit den ehemaligen Besatzern und auch mit ihrer eigenen Vergangenheit. Es ist ihm gelungen. Nach all den Leiden, den Millionen Toten, den von allen Staaten begangenen Verbrechen fallen die ehemaligen Kriegsgefangenen Drucker in die Arme. Am Ende ihres Lebens eine Anerkennung ihres Schicksals.

Rheinberg im Juni 2012: Endlich eine Entschuldigung.

 

Rheinwiesenlager

Nach der Kapitulation der Wehrmacht im Mai 1945 gerieten Millionen deutscher Soldaten in amerikanische, britische, sowjetische und französische Kriegsgefangenschaft. In der Folge richteten die Amerikaner entlang des Rheins 17 provisorische Kriegsgefangenenlager, die sogenannten „Rheinwiesenlager“, ein. Die Wehrmachtssoldaten erhielten nicht den Status eines „Kriegsgefangenen“, sondern wurden als „entwaffnete feindliche Streitkräfte“ bezeichnet. Grundlegende Rechte wurden den Gefangenen dadurch verwehrt. Auch das Internationale Rote Kreuz erhielt keinen Zugang. Die Gefangenen wurden nur unzureichend ernährt und mußten Erdlöcher als Schlafplatz nutzen. Aufgrund fehlender medizinischer Versorgung und anhaltender Regenfälle breiteten sich schnell Krankheiten wie Ruhr und Cholera aus. Bis zur Auflösung der Lager im September 1945 starben zehntausende deutsche Soldaten an Unterernährung und Krankheiten.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen