© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/12 22. Juni 2012

„Demokratie hat ihren Preis“
Bundesverfassungsgericht: Erfolgreiche Klage der Grünen wegen ESM-Vertrag düpiert Bundesregierung / Mitwirkungsrechte des Parlaments mißachtet
Taras Maygutiak

Die Unterrichtung muß dem Bundestag eine frühzeitige und effektive Einflußnahme auf die Willensbildung der Bundesregierung eröffnen und so erfolgen, daß das Parlament nicht in eine bloß nachvollziehende Rolle gerät.“ Dies hat das Bundesverfassungsgericht am Dienstag klargestellt und damit der Bundesregierung eine Absage erteilt. Der Bundestag habe keinen Einfluß gehabt, auf den ESM-Vertrag einzuwirken.

Das Urteil sei ein weiterer wichtiger Baustein in einer Reihe von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts „zur Stärkung nationaler parlamentarischer Verantwortung im Rahmen der europäischen Integration“, sagte der Präsident des Gerichts Andreas Voßkuhle. Daß als Gegenargument einer parlamentarischen Beteiligung oft angeführt werde, daß schnell und effizient gehandelt werden müsse, ließ das Gericht nicht gelten: „Demokratie hat ihren Preis. Bei ihr zu sparen, könnte aber teuer werden.“ Allerdings stellt der Antragsteller Jürgen Trittin, Chef der Grünen im Bundestag, den ESM gar nicht in Frage. Im Gegenteil: Er ist ausdrücklich dafür. Das betonte er noch einmal kurz vor der Verhandlung.

In einer ARD-Sendung wurde er zum Organstreit in Sachen „ESM/Euro-Plus-Pakt“ befragt. Die Grünen waren nach Karlsruhe gezogen, weil sie 2011 als Parlamentarier nicht rechtzeitig beziehungsweise unzureichend von der Bundesregierung über die Pläne zum ESM informiert worden waren. So sind im Urteil mehrere Zeitpunkte aufgelistet, bei denen die Abgeordneten zuerst aus der Süddeutschen Zeitung über den geplanten Europäischen Stabilisierungsmechanismus erfuhren.

Zitiert wurde dort aus einem inoffiziellen Papier, einem sogenannten „Non Paper“. Als der Bundestag im Januar 2011 mit Blick auf eine Tagung des Europäischen Rates Dokumente über die Konkretisierung des ESM beim Bundesfinanzministerium anforderte, gab es nichts. Es gebe nur eine Zusammenstellung interner Papiere, hieß es aus dem Ministerium.

Auch mit Nachbohren zwei Tage später unter Hinweis auf einen Handelsblatt-Artikel kam der Bundestag nicht weiter. Dokumente? Wieder nichts. In ihrem Antrag vor dem Bundesverfassungsgericht machten die Grünen „eine Verletzung der Unterrichtungsrechte des Deutschen Bundestages durch die Bundesregierung im Zusammenhang mit dem ESM und dem Euro-Plus-Pakt“ geltend.

„Hier geht es um die Haushaltsrechte des Bundestages, hier geht es um Steuergelder“, echauffierte sich Trittin in der ARD: „Es kann nicht sein, daß der Bundestag im Blindflug entscheidet.“ Die Richter in Karlsruhe sahen es in ihrem Urteil wie die Grünen: Artikel 23 des Grundgesetzes räume dem Deutschen Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union „weitreichende Mitwirkungs- und Informationsrechte“ ein, so Gerichtspräsident Voßkuhle, in der Urteilsbegründung.

Zu den Angelegenheiten der EU gehörten Vertragsveränderungen und Gesetzesänderungen in den Mitgliedstaaten. Um eine Angelegenheit der EU handele es sich auch bei völkerrechtlichen Verträgen.

Volker Beck, Geschäftsführer der Bundestagsfraktion der Grünen, sprach noch im Gerichtssaal in Karlsruhe von „einem Fortschritt für die Demokratie“. Für ihn als Verteidiger der Parlamentsrechte sei es „ein großer Tag“. Bei den Gesprächen zum Fiskalpakt habe das Urteil „unmittelbare Auswirkung“, kündigte er an. „Wir können die Rechte der Bürger als Parlamentarier nur vertreten, wenn wir rechtzeitig informiert sind“, erklärte Beck.

Und was heißt das für den ESM-Vertrag? Nun, auf den wird das Urteil keinen Einfluß mehr haben. Und so bleibt bei den am Dienstag von der grünen Führungsspitze gefeierten gestärkten Parlaments- und Haushaltsrechten des Bundestages ein schaler Beigeschmack. Zehn Tage später könnte davon nämlich de facto nicht mehr viel übrig sein. So wie es derzeit aussieht, wird der Bundestag und im Anschluß der Bundesrat den ESM-Vertrag am 29. Juni mit breiter Mehrheit verabschieden, so daß er am 1. Juli in Kraft treten könnte. Wie wenig deutsche Parlamentarier dann noch Einfluß auf das Haushaltsrecht haben, kann nur erahnen, wer im ESM-Vertrags liest, daß der Gouverneursrat nach Artikel 10 jederzeit das Grundkapital erhöhen kann.

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