© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/12 22. Juni 2012

Aus den Fugen geraten
Charles Murrays Buch „Coming Apart“: Der Verfall der weißen Arbeiterschicht setzt die USA unter Druck
Elliot Neaman

Eine Geschichte, die sich konservative Intellektuelle und Politiker in den USA immer wieder gerne erzählen, geht so: In der Folge von „1968“ haben Strömungen wie der Feminismus und die Schwulenbewegung den Zusammenbruch der Familie und damit einen allgemeinen Verfall der moralischen Werte und staatsbürgerlichen Tugenden herbeigeführt. Die „normalen Menschen“, jene gottesfürchtigen Amerikaner, die ihr Land nach wie vor lieben, seien dabei buchstäblich links liegengelassen worden. Ein Echo dieser Mentalität war erst jüngst wieder zu vernehmen, als der zeitweilige republikanische Präsidentschaftsfavorit Rick Santorum Barack Obamas Forderung, alle jungen Menschen müßten die Chance auf ein Studium an einer guten Universität erhalten, „elitär“ nannte.

Schon ein oberflächlicher Blick auf die Statistiken zeigt, daß außereheliche Geburten, Drogensucht und Kriminalität in den ärmeren, ländlichen, religiös geprägten Gegenden vor allem im Süden der USA weitaus stärker verbreitet sind als in den „liberalen“ Städten an den Küsten.

Der libertär-konservative Querdenker Charles Murray will nun endgültig mit dieser Version der jüngeren Zeitgeschichte aufräumen. In seinem aktuellen Buch „Coming Apart“ vertritt er die These einer Spaltung des Landes, die weniger ideologisch als vielmehr ökonomisch geartet sei. Dieser Trend sei bereits seit 1960 zu beobachten, habe sich aber seit Mitte der 1990er Jahre beschleunigt – an einem Ende des Spektrums die gebildete obere Mittelschicht, die praktisch über das gesamte soziale, kulturelle und intellektuelle Kapital verfüge. Am anderen Ende die unteren 30 Prozent, deren Gemeinschaften auseinanderfallen, während die Kriminalitätsraten steigen, die Männer ihre Familien verlassen und jegliches Bemühen aufgeben, Arbeit zu finden.

Murray bietet ein beeindruckendes Zahlenmaterial auf, um nachzuweisen, daß in den privilegierten Gegenden der oberen 20 Prozent – er bezeichnet sie als „Super Zips“, ein Kürzel für die Postleitzahlen der wohlhabenden Viertel – die Welt noch in Ordnung ist. Dort wachsen Kinder in intakten Familien mit reichhaltigen kulturellen Angeboten und festen Regeln auf. In ärmeren Gegenden dagegen liegt die Anzahl der alleinerziehenden Eltern beziehungsweise der Kinder, die ganz ohne Eltern aufwachsen, weitaus höher, und zahlreiche Hindernisse stehen einer erfolgreichen schulischen und beruflichen Laufbahn im Weg.

Wie Murrays Untertitel, „The State of White America, 1960–2010“, verdeutlicht, interpretiert er – im Gegensatz etwa zu Samuel P. Huntingtons plakativen Thesen – das „Auseinanderbrechen“ der USA keineswegs als ethnisches Problem. Seiner Meinung nach haben sich die gesellschaftspolitischen Ansätze der letzten Jahre zu stark auf ethnische Unterschiede sowie auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Einwanderung konzentriert.

Statt dessen nimmt Murray zwei fiktive Gemeinden ins Visier, das reiche „Belmont“ (die oberen 20 Prozent) und das unterprivilegierte „Fishtown“ (die unteren 30 Prozent), um die Lebensbedingungen weißer Amerikaner zwischen 30 und 49 Jahren zu vergleichen. Unter Berücksichtigung der Faktoren Alter, Ethnie, Einkommen und Beruf kommt er anhand der Statistiken zu dem Ergebnis, daß in Fishtown die Quote der verheirateten Erwachsenen zwischen 1960 und 2010 von 84 auf 48 Prozent, die der Kinder, die mit beiden leiblichen Eltern leben, von 96 auf 37 Prozent gesunken ist. Die Häufigkeit von Gewaltverbrechen vervierfachte sich, die Anzahl der regelmäßigen Kirchgänger und aktiven Gemeindemitglieder ging drastisch nach unten, während die Anzahl der Männer im arbeitsfähigen Alter, die überhaupt keiner bezahlten Beschäftigung mehr nachgehen, vervierfachte sich zwischen 1968 und 2008 von drei auf zwölf Prozent vervierfachte.

Im letzten Teil seines Buches bezieht Murray auch Schwarze, Menschen lateinamerikanischer Abstammung und andere ethnische Minderheiten in seine Berechnungen ein und kommt zu dem Ergebnis, daß sich die Prozentzahlen kaum ändern, mit der einzigen Ausnahme, daß die Quote der zu Haftstrafen verurteilten Straftäter bei der schwarzen Bevölkerung steil in die Höhe schnellt. Quintessenz: Es ist keine Frage der Hautfarbe, sondern der sozialen Klasse.

Für dieses beunruhigende Phänomen macht Murray die „Homogamie“ verantwortlich, wie er es nennt – die Neigung der Amerikaner, Kinder mit Ehepartnern oder Lebensgefährten aus ihrem eigenen sozialen Umfeld zu zeugen. Er folgt hierin anderen Wissenschaftlern, die bereits seit längerem auf den sogenannten Cluster-Effekt hinweisen: Bis vor etwa dreißig Jahren lebte vor allem in städtischen Gebieten eine sehr heterogene Bevölkerung. Mittlerweile haben die Privilegierten sich in Enklaven abgeschottet, wo sie nur mit Menschen mit ähnlichen kulturellen und ideologischen Präferenzen Umgang haben.

Wie schon in seinem umstrittenen Bestseller „The Bell Curve“ (1994) geht es Murray jedoch zuvorderst um die genetischen Auswirkungen dieser Entwicklung. Eltern mit einem hohen Intelligenzquotienten, so argumentiert er, werden immer intelligentere Kinder zeugen, während sich in der Unterschicht die gegenteilige Wirkung bemerkbar machen wird. Da auf dem heutigen Arbeitsmarkt Intelligenz mehr denn je zuvor gefragt ist und belohnt wird, befürchtet Charles Murray, daß diese letztlich zu einer regelrechten Apartheid nach genetischen Fähigkeiten führen wird.

Hier kommt die Hautfarbe dann durch die Hintertür doch wieder ins Spiel, hatten Murray und sein Koautor Richard Hernstein doch in „The Bell Curve“ die These vertreten, Schwarze seien Weißen intellektuell unterlegen. Seriöse Forscher wiesen auf die methodologischen Schwachstellen des Buchs hin und stellten dabei vor allem die Wissenschaftlichkeit der von den amerikanischen Streitkräften angewandten Intelligenztests in Frage.

Wenn Murray den Verfall der weißen Arbeiterschicht in den USA allein auf genetische Faktoren zurückführt, ignoriert er dabei weitgehend die revolutionäre Wirkung der Globalisierung, die günstige Bedingungen für die Entstehung einer Wissenselite innerhalb der Dienstleistungsgesellschaft schafft und gleichzeitig zur Vernichtung von Arbeitsplätzen im herstellenden Gewerbe führt.

„Coming Apart“ ist dennoch ein nützliches und notwendiges Buch, solange man sich bewußt ist, daß dahinter eine höchst fragwürdige Rassenlehre steckt. Murray wiederum weiß um die Brisanz dieser Problematik und versucht sie in seinem neuen Buch möglichst zu umschiffen.

Seine mit größter Inbrunst vorgetragenen Argumente stammen diesmal eher aus dem Repertoire des traditionellen Wertkonservatismus. Er bemüht den Geist Alexis de Tocquevilles als Gewährsmann für seine Behauptung, daß Amerika dank seiner intakten Familien unter Führung starker Frauen den europäischen Nationen überlegen sei. Er beklagt den Verfall der amerikanischen „Gründungstugenden“ Fleiß, Ehrlichkeit (Gesetzestreue), eheliche Treue und Frömmigkeit. Er trauert um die Gesellschaft, deren Auseinanderbrechen er diagnostiziert, und wirft der Elite vor, diese Entwicklung mutwillig zu ignorieren, hat jedoch selber kaum überzeugende Lösungsansätze aufzubieten.

Als überzeugter Libertärer warnt er davor, das Problem mit staatlich verordneten Sozialmaßnahmen angehen zu wollen. Seiner Meinung nach würde dies lediglich zu mehr Abhängigkeit und niedrigeren Geburtenraten führen und den Verfall der Ehe beschleunigen – eine Entwicklung, die er als „europäisches Syndrom“ bezeichnet. Statt dessen fordert er die weißen Eliten auf, moralische Führungsqualitäten zu erweisen und dabei nicht davor zurückzuscheuen, sich in die Lebensstilentscheidungen ihrer Mitbürger einzumischen.

Ob die reichen Leute in Belmont diesbezüglich tatsächlich irgendwelche Skrupel hegen, ist zwar keineswegs offensichtlich. Vielmehr gehört es bereits jetzt durchaus zum guten Ton, Untugenden des Rauchens, Trinkens, ungesunden Essens und schlechter Kindererziehung anzuprangern.

Wie dem auch sei, in jedem Fall werden Moralpredigten wenig zur Heilung der tiefen gesellschaftlichen Spaltung beitragen. Niemand wird bezweifeln wollen, daß die kulturellen und politischen Bruchlinien, auf die Murray hinweist, real sind.

Die Kluft zwischen dem republikanischen („roten“) und dem demokratischen („blauen“) Amerika ist mittlerweile so breit, daß einige Beobachter befürchten, der beschriebene Cluster-Effekt und die Gewaltenteilung, die jahrhundertelang als die große Stärke der amerikanischen Verfassung galt, könnten das Land in nicht allzu ferner Zukunft unregierbar machen.

Dem zu entrinnen, setzt Murray in seinem Schlußwort auf ein „großes staatsbürgerliches Erwachen“ mitsamt einer Rückbesinnung auf „Familie, Arbeit, Gemeinschaft und Glauben“ – mit anderen Worten, er fordert, daß Amerika zu einer Lebensweise zurückkehrt, die endgültig der Vergangenheit angehört, wie er auf den vorangegangenen 400 Seiten gezeigt hat.

 

Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt Neuere europäische Geschichte an der University of San Francisco.

Charles Murray: Coming Apart – The State of White America, 1960–2010. Crown Forum, New York 2012, gebunden, 407 Seiten, 27 US-Dollar

Foto: Gutsituierte US-Musterfamilie: Die Abschottung zur unterprivilegierten „White-Trash“-Gesellschaft (Bild oben) fördert die Spaltung der Nation

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