© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/12 22. Juni 2012

Der lachende Dritte war bereit
Ein Sammelband des russischen Historikers Dmitrij Chmelnizki über die Kriegsvorbereitungen der Sowjetunion vor dem Angriff der Wehrmacht 1941
Klaus Hornung

Die deutsche Alleinschuld am Zweiten Weltkrieg 1939 und der deutsche „Überfall“ auf die Sowjetunion 1941 sind immer noch der Kern des Geschichtsbildes der Sieger von 1945, das auch vom deutschen Establishment in Politik, Medien und Wissenschaft weitgehend ergeben nachgebetet wird. Doch die Risse im Bild werden zunehmend breiter. Autoren wie Ernst Topitsch mit „Stalins Krieg“ (1985), Joachim Hoffmann mit „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ (1986) oder Stefan Scheil mit „ Fünf plus Zwei. Die gemeinsame Entfesselung des Zweiten Weltkriegs“ (2003) sind nicht ohne Wirkung geblieben.

Nicht zuletzt eine wachsende Zahl russischer Historiker haben seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion die kurzzeitigen Archivöffnungen genutzt, um sowjetische Propaganda-Übermalungen der Zeitgeschichte abzutragen. Auch die vorliegende deutsche Ausgabe des von Dmitrij Chmelnizki herusgegebenen Bandes „Die Rote Walze“ setzt diese Linie fort mit den Beiträgen von sechs russischen und zwei amerikanischen Historikern sowie des österreichischen Militärhistorikers Heinz Magenheimer und des israelischen Militärhistorikers Uri Milstein, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Stalins Vorbereitungen des sowjetischen Angriffskrieges gegen Deutschland und Europa 1940/41 befassen.

Viktor Suworow, einstiger Offizier des Nachrichtendienstes der Sowjetarmee, hatte in seinen Büchern „Der Eisbrecher. Hitler in Stalins Kalkül“ (1989) und „Tag M“ (1995) mit einer Fülle sowjetischer Quellen, darunter die Memoirenliteratur der sowjetischen Kriegsgeneralität, den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 als Ausgangspunkt von Stalins Strategiekonzept dargestellt. Mit dem Pakt gab Stalin Hitler grünes Licht für seinen Angriff auf Polen, dem die Kriegserklärung der beiden Westmächte an das Deutsche Reich folgen mußte, also jenen „zweiten Krieg“ in Europa auslösen sollte, auf dessen „Unvermeidlichkeit“ der sowjetische Diktator schon seit den zwanziger Jahren unentwegt gesetzt hatte.

Der Krieg sollte die kapitalistischen Mächte bis zur Erschöpfung schwächen, um der Sowjetunion als „lachendem Dritten“ (Lenin) die Gelegenheit zu geben, als letzte in ihn einzugreifen und der kommunistischen Weltrevolution in Europa zum Durchbruch zu verhelfen. Die beiden totalitären Kontrahenten, so das Fazit, haben in ihrem indirekten Zusammenspiel den Zweiten Weltkrieg ausgelöst, so daß Stalin am Abend des Vertragsabschlusses im vertrauten Kreis sagen konnte: „Ich habe Hitler überlistet“, eine Feststellung, die freilich Hitlers Verantwortung in diesem Komplott durch seinen leichtfertigen Angriff auf Polen nicht mindert.

Der Beitrag des Historikers Richard C. Raack (Universität von Kalifornien) befaßt sich mit der umstrittenen Rede Stalins am 19. August 1939, vier Tage vor dem Paktabschluß, mit der er im Politbüro den Vertrag begründete. Der Redetext wurde im November 1939 von der französischen Nachrichtenagentur Havas und in französischen Tageszeitungen veröffentlicht, von Stalin selbst freilich sogleich als Fälschung bezeichnet, einer Bewertung, der auch deutsche Historiker nach dem Krieg folgten. Der russische Historiker T. S. Buschujewoj, Universität Nowosibirsk, konnte den Text 1994 im ehemaligen Sonderarchiv der UdSSR auffinden und veröffentlichen. Auch Raacks eindringende Untersuchung kommt zu dem Ergebnis der Echtheit des Dokuments.

Stalin begründete darin den Paktabschluß damit, daß er zum Ausbruch des Krieges zwischen Deutschland und dem „englisch-französischen Block“ führen werde und damit im Interesse der Sowjetunion liege, damit sich die beiden Seiten in ihm erschöpften und am Ende ein „sowjetisches Deutschland“ stehe und auch Frankreich sowjetisiert werde, wie es im abgedruckten Text heißt. Albert L. Weecks, Universität New York, und die anderen russischen Autoren des Bandes befassen sich im einzelnen mit den Vorbereitungen des sowjetischen Angriffskrieges gegen Deutschland, die 1940/41 mit weitüberlegenen Kräften, besonders bei Panzern, Artillerie und Luftstreitkräften ihren Höhepunkt erreichten, so daß die Autoren von einem wahrscheinlichen Angriffstermin noch im Juli 1941 ausgehen.

Dmitrij Chmelnizki (Hrsg.): Die Rote Walze. Wie Stalin den Westen übrrollen wollte. Pour le Mérite Verlag, Selent 2011, gebunden, 288 Seiten, Abbildungen, 25,95 Euro

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