© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/12 29. Juni 2012

Irrlichter und Blendgranaten
Bundestag: Vor der Abstimmung über den ständigen Rettungsschirm ESM und den Fiskalpakt häufen sich die Ablenkungsmanöver
Paul Rosen

In den dunkler werdenden Zeiten für Deutschland und Europa mehren sich die Irrlichter. Ein besonders helles sendete ausgerechnet die stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion, Sahra Wagenknecht. „Wenn der Bundestag nicht mehr umfassend über den Haushalt entscheiden kann, dann steht die parlamentarische Demokratie als Ganzes zur Disposition“, sorgte sie sich. Natürlich ist auch der Koalition klar, daß sie sich am Rande ihrer Legitimation bewegt oder die Grenze bereits überschritten hat, wenn sie – wie an diesem Freitag vorgesehen – einen gewaltigen Rettungsschirm beschließen soll, dessen Garantien Deutschland in die Knie zwingen würden, wenn sie fällig werden. Selbst die Entwicklungen der vergangenen Tage in Europa (Zypern, Spanien) und sogar die Diskussionen zwischen Bundespräsidialamt und Bundesverfassungsgericht gaben keinen Anlaß zu der Hoffnung, daß sich neben den Linke-Abgeordneten mehr als die üblichen ein bis zwei Dutzend Abgeordneten dem Retttungsschirm ESM und dem Fiskalpakt widersetzen würden.

In einer beispiellosen Nachtoperation wollten Bundestag und Bundesrat den ESM und Fiskalpakt auf den Weg bringen. Wie auf einem arabischen Basar hatten Kanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) in der vergangenen Woche alle Widerstände weggeschachert. SPD und Grüne bekamen Zusicherungen für den von ihnen gewünschten Pakt für Wachstum und Beschäftigung und auch für die Finanztransaktionssteuer. Die Mehrheit der Länderholten sich Merkel und Schäuble mit der Zusage, bei der milliardenteuren Eingliederungshilfe für Behinderte was dazuzugeben und „Deutschlandbonds“ (gemeinsame Anleihen von Bund und Ländern) aufzulegen. Diese Bonds hatten alle Bundesregierungen bisher als Teufelszeug verdammt, weil sie die Länder zum Schuldenmachen verführen und die Verantwortung für die Schulden auf den stärkeren Bund abwälzen. Genau wie Griechen, Italiener und Franzosen, die Eurobonds fordern, wollen in Deutschland Berliner, Bremer und Schleswig-Holsteiner die Deutschlandbonds und damit einen größeren Schluck aus der Schuldenpulle.

Aber plötzlich kam der „ganz großen Retter-Koalition“ (Welt) ein einzelner Mann in die Quere: Bundespräsident Joachim Gauck. Auf Bitten des Verfassungsgerichts unterschreibt er ESM und Fiskalpakt vorerst nicht, bis die Richter sich ein Bild über die angekündigten Klagen gemacht haben. Gaucks schwere Entscheidung könnte seine Chance sein, sich als Lordsiegelbewahrer des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips zu profilieren und nicht nur als Lieferant wohlklingender Sonntagsreden. Hinter dem Aufschub verbirgt sich ein Krimi. Merkel habe, so berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Gauck gemahnt, sofort zu unterschreiben, damit die aus Sicht der Kanzlerin „alternativlose“ Euro-Rettung einen weiteren Schub erhalte. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Bericht der Financial Times Deutschland (FTD), nach dem Merkels zweiter Sprecher Georg Streiter am Dienstag und damit vor Bekanntwerden des Karlsruher Petitums Gauck zur schnellen Unterschrift aufrief: „Ich nehme einmal an, daß er zeitnah unterschreibt. Das wäre ganz hilfreich, wenn es zum 1. Juli in Kraft treten soll.“

Tatsächlich schien Gauck dem Druck von Merkel nachgeben zu wollen. Er hatte bereits Mitte April – für einen Bundespräsidenten sehr ungewöhnlich – zu erkennen gegeben, daß er keinen Zweifel daran habe, daß das Bundesverfassungsgericht in dieser Sache schon akzeptieren werde, was die Regierung vorschlage. Gaucks Festhalten an seiner Haltung provozierte wohl den „ungewöhnlichen Vorfall“ (Spiegel), daß der Präsident des Verfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, den Wunsch nach Entschleunigung des Verfahrens öffentlich machte. Gauck parierte sofort, Schäuble tobte: „Ich glaube nicht, daß es klug ist, wenn die Verfassungsorgane öffentlich miteinander kommunizieren.“ Merkel schwieg, mußte aber registrieren, daß sie nach der Panne im Bundestag beim Betreuungsgeld nun die zweite Niederlage hinnehmen mußte. Am Ende ist sie damit nicht. Aber die „eiserne Kanzlerin“ bekommt Risse.

Schon tauchten Gerüchte auf, Merkel habe 2010 Horst Köhler gedrängt, sofort den ersten Euro-Rettungsbeschluß zu unterschreiben. In der Tat unterzeichnete Köhler den Beschluß kurz vor seinem Rücktritt. Die FTD will wissen, „Merkels damaliges Drängen habe mit zum Rücktritt des Staatsoberhauptes beigetragen“. Schäuble wäre nicht Schäuble, wenn er nicht sofort eine Blendgranate gezündet und damit von der Krise zwischen den Verfassungsorganen abgelenkt hätte. Via Spiegel brachte er eine Volksabstimmung über mehr Europa ins Spiel: „Wann es soweit sein wird, weiß ich nicht, weiß wohl keiner. Aber ich gehe davon aus, daß es schneller kommen könnte, als ich es noch vor wenigen Monaten gedacht hätte.“ Der Beifall von der falschen Seite war ihm sicher: „Ich halte eine Volksabstimmung für zwingend“, sagte Wagenknecht.

Schäubles eigene Truppe, die sich stets bemüht hatte, den zweiten Absatz des Grundgesetzartikels 20, wonach es „Wahlen und Abstimmungen“ gibt, in Vergessenheit geraten zu lassen, war irritiert. Er wüßte gerne, „worum es gehen soll“, wurde ein sichtlich überraschter hessischer Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) zitiert.

Foto: Finanzminister Wolfgang Schäuble und Kanzlerin Angela Merkel im Bundestag: Beifall von der falschen Seite

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