© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/12 29. Juni 2012

Das „Great Game“ 2.0
Syrien, Rußland und der Westen: Hinter den Kulissen tobt der Kampf um Öl- und Gaspipelines
Thomas Fasbender

Kein Krisenherd im Nahen Osten, in den nicht handfeste geostrategische Interessen verflochten wären. So auch in Syrien. Hinter einer Nebelwand aus moralisch aufgeladenen Schuldzuweisungen wird Welttheater gespielt – eine neue Episode des „Great Game“ vor 150 Jahren, damals zwischen dem viktorianischen England und dem russischen Zarenreich.

Seinerzeit war Rußland der Auslöser: Für die Offiziere des Zaren war der erstrebte Preis Englands Kronjuwel Indien. Anfang des 21. Jahrhunderts sieht sich Rußland in der Defensive, attackiert von westeuropäischen Politikern und Managern, die, so behaupten es manche russische Politiker, mit allen Tricks und Kniffen die Marktstellung der russischen Gazprom aushebeln wollen.

Vielleicht bereut Präsident Putin ja inzwischen das Neujahrsgeschenk, mit dem er Westeuropa vor sechseinhalb Jahren aus dem Dornröschenschlaf geweckt hat. Deutlicher als mit dem Stopp der Gaslieferungen in die Ukraine hätte er dem westlichen Kontinent die wachsende Abhängigkeit vom russischen Wohlwollen nicht vor Augen führen können. Dieser 1. Januar 2006 war der Auftakt für eine hektische Suche nach alternativen Pipeline-Projekten, von denen das bekannteste den Namen Nabucco trägt. Deren Trasse soll, von Aserbaidschan ausgehend, über die Türkei, Bulgarien, Rumänien, Ungarn und Österreich führen. Doch die Russen halten dagegen, nicht ohne Erfolg. Putins forcierte Eurasien-Politik wurzelt auch im Bemühen, Zentralasien von Alleingängen mit Westeuropa abzuhalten.

Allerdings bieten sich dem Westen seit der Entdeckung riesiger Gasfelder im Emirat Katar weitere Alternativen. Ursprünglich als Quelle für die USA gedacht, stehen die Vorkommen jetzt Europa zur Verfügung – die USA können mit ihrem Schiefergas einen Großteil des Bedarf aus heimischen Quellen decken.

Katarisches Gas kann auf dem Landweg auf zwei Routen über die Türkei nach Europa transportiert werden: durch Kuwait und den Irak sowie durch Saudi-Arabien, Jordanien und Syrien. Der Irak kommt aufgrund seiner Nähe zum Iran und der instabilen politischen Situation nicht in Frage. Zudem ist Syrien seit Jahrzehnten ein klassisches Transitland für Öl und Gas.

Zwei transnationale Trassen durchqueren das Land: die alte „Tapline“ von den Emiraten zum Mittelmeer und die jüngere Arabische Gas-Pipeline AGP, die Port Said am Mittelmeer und Akaba am Roten Meer mit dem libanesischen Tripoli, dem syrischen Mittelmeerhafen Baniyas und der türkischen Südgrenze verbindet. Beide sind außer Betrieb, die „Tapline“ seit den 1970er Jahren und die AGP aufgrund von Anschlägen im Umfeld des „Arabischen Frühlings“.

Ein neues Projekt, die Panarabische Gas-Pipeline, wurde erstmals 2010 von der ägyptischen Regierung ins Spiel gebracht. Entlang der alten „Tapline“-Trasse soll sie ägyptisches Gas in den Norden schaffen.

Noch sichern die traditionell engen Beziehungen zwischen Syrien und Rußland dem Kreml Einfluß und Kontrolle. Aber zumindest aus Sicht der Russen nutzt der Westen die Syrienkrise, um mit dieser privilegierten Position ein für allemal Schluß zu machen.

Für Rußland steht viel auf dem Spiel. Katar verfügt über die drittgrößten Gasreserven der Welt und wäre für Westeuropa die ersehnte Alternative zu den Lieferungen der Gazprom. Hinzu kommt, daß die russische Marine seit vierzig Jahren im syrischen Hafen Tartus ihre einzige Mittelmeer-Basis unterhält. Ein Verlust des Partners Syrien wäre für den Kreml ein Schlag ins Kontor.

Beide Seiten spielen mit harten Bandagen. Was im Windschatten des „Arabischen Frühlings“ als Aufbegehren gegen die herrschende alawitische Minderheit begann, hat sich längst zum Stellvertreterkrieg ausgewachsen. Als schwer berechenbarer Joker mischt auch die Türkei mit. Sie hat begriffen, welcher Machtzuwachs ihr als Transitland für die europäische Gasversorgung ins Haus steht (JF 33/09). Seit Monaten ist die Türkei auf Konfrontationskurs mit dem „blutrünstigen Diktator Assad“ (Ministerpräsident Recep T. Erdoğan). Das Säbelrasseln infolge des Abschusses eines türkischen Kampfflugzeugs durch Syrien ist nur der Ausdruck der steigenden Nervosität.

Die Meldungen über britische SAS-Elitekämpfer und Geheimagenten aus England und Frankreich an der Seite der Freien Syrischen Armee (FSA), der mindestens zehntausend Mann umfassenden Kampftruppe der Opposition, die aus dem türkischen Grenzgebiet operiert, werden in London oder Paris offiziell von niemandem bestätigt. Ebenso dementiert der Kreml die Anwesenheit russischer Soldaten, die angeblich die staatlichen Streitkräfte unterstützen. Auch der US-Geheimdienst CIA soll der FSA mit Geld und Ausrüstung dienlich sein. Beide Seiten werfen einander Waffenlieferungen vor. Mindestens zwei schwere Landungsschiffe der russischen Schwarzmeerflotte sind nach Syrien unterwegs, nach Expertenmeinung für den Fall einer erforderlichen Räumung der russischen Basis in Tartus.

Kritisch zu bewerten ist die Rolle der herrschenden westlichen Medien. Ob wissentlich oder aus Naivität – sie sind Partei. Die Berichte des eng mit Syrien verbundenen russischen Journalisten Marat Mussin, dem zufolge Augenzeugen belegen, daß das Massaker an Zivilisten in der Stadt Al-Hula im Mai eine gezielte Provokation der FSA war, finden nur im Internet ihren Niederschlag.

Mussin gehört zu der wachsenden Gruppe russischer Beobachter, die dem Westen eine bewußt betriebene Ausgrenzungspolitik vorwerfen, unter anderem mit dem Ziel, Gazprom vom europäischen Markt zu verdrängen. Dazu muß man wissen, daß Rußland bereits 2030 deutlich weniger Rohöl fördern wird. Obwohl es nur über die weltweit achtgrößten Reserven verfügt, steht das Land seit Jahren an der Spitze der Förderländer – ein Raubbau, der sich nicht lange durchhalten läßt. Somit ist absehbar, daß der Gasexport einen stetig wachsenden Anteil der hohen Staatsausgaben finanzieren muß. Die Nervosität, mit der viele Russen angesichts dieser Tatsache die westliche Politik verfolgen, ist nachvollziehbar.

Foto: Explodierende Pipeline nahe Homs: Syrien ist seit langem ein klassisches Transitland für Öl und Gas

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