© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/12 29. Juni 2012

Das Trojanische Pferd ist gesattelt
Der Europäische Stabilitätsmechanismus ESM kastriert die Budgetrechte der nationalen Parlamente
Thorsten Polleit

Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) erweckt den Anschein, ein betragsmäßig begrenztes Instrument zur „Bekämpfung“ der Schuldenkrise im Euro-Raum zu sein und unter der Kontrolle der nationalen Parlamente zu stehen. Doch das ist ein Trugschluß. Der ESM-Vertrag verlagert die Budgethoheit von den Nationalstaaten auf die europäische Bürokratieebene. Diese Wirkung mag für den flüchtigen Leser des Vertragswerkes jedoch nicht unmittelbar erkennbar sein, schließlich haben die Verfasser des Vertrages ganze Arbeit geleistet, um sein wahres Gesicht zu verbergen.

Der ESM-Vertrag wird Deutschland verpflichten, sich am Betrag des einzuzahlenden Kapitals des ESM in Höhe von 80 Milliarden Euro mit rund 22 Milliarden Euro zu beteiligen. Darüber hinaus wird eine Beteiligung am Gesamtbetrag des abrufbaren Kapitals von 620 Milliarden Euro mit rund 168 Milliarden Euro zugesagt.

Die Entscheidungsgremien des ESM sind der Gouverneursrat und das Direktorium. Deren Beschlußfähigkeit ist gegeben, wenn zwei Drittel der Stimmen anwesend sind. Die Anwesenheit Deutschlands, das den größten Teil in Höhe von 27,14 Prozent des ESM-Kapitals einzuzahlen hat, ist damit gar nicht erforderlich! Schon bei einer Anwesenheitspflicht von drei Viertel wäre eine Anwesenheit Deutschlands verpflichtend gewesen – aber das wollten die Vertragsverfasser wohl vermeiden.

Die Mitglieder des Gouverneursrats werden von den Regierungen der ESM-Mitgliedsländer entsandt, und sie wiederum ernennen die Mitglieder des Direktoriums. Doch nicht etwa der Gouverneursrat ist das machtvolle Gremium, sondern das Direktorium. Ja, die national-parlamentarische Verankerung des Gouverneursrats als Kontrollorgan entpuppt sich als reine Augenwischerei. Der Gouverneursrat dient vielmehr dazu, das Direktorium, in dem die ei-gentliche Macht liegt, faktisch von der Kontrolle der nationalen Parlamente abzuschirmen. Das zeigt sich recht ungeschminkt bei dem wohl wichtigsten Aspekt: dem zusätzlichen Kapitalabruf durch den ESM. Hierüber entscheidet zwar formal der Gouverneursrat im „gegenseitigen Einvernehmen“. Das Direktorium kann jedoch mit einfacher Mehrheit – gegen die deutsche Stimme – den Kapitalabruf selbst vornehmen, wenn ein Verlust entstanden ist. Dies ist zum einen eine sehr auffällige Abweichung vom normalen Zustimmungsbedarf von 80 Prozent der Stimmen.

Zum anderen macht stutzig, daß der ESM-Vertragstext nichts darüber aussagt, was ein „Verlust“ ist. Ihn festzustellen obliegt der Beliebigkeit des Direktoriums. Letzteres kann zum Beispiel den Erwerb einer Staatsanleihe – unabhängig von ihrem Kauf- und Marktwert – als Verlust gemäß einer Einnahmen-Ausgaben-Rechnung feststellen. Faktisch erhält das Direktorium so einen Anspruch auf einen „unlimitierten Geldbetrag“, den er ohne Zustimmung der nationalen Parlamente von jedem ESM-Mitglied, das noch zahlungsfähig ist, abfordern kann. Mit anderen Worten: Das Direktorium hat Anspruch auf das Nachfüllen des Glases, das es austrinkt – und damit gehört ihm faktisch das Faß des Wirtes, der verpflichtet ist, das leere Glas nachzuschenken.

Anders als vielfach gedacht, ist der ESM volumenmäßig nach oben auch nicht beschränkt. So hat der Gouverneursrat die Möglichkeit, ein beliebig hohes Aufgeld (Agio) zu erheben, und zwar bei „besonderen Umständen“, die aber nicht inhaltlich definiert werden. Das bedeutet ein betragsmäßig unbegrenztes Agio: Mit den letzten 100 Euro genehmigtes Stammkapital können 10 Billionen Euro eingefordert werden. Auch ohne Mitwirkung Deutschlands kann eine beliebige Haftungssumme formal korrekt erreicht werden. Die Mitglieder des Gouverneursrates und des Direktoriums genießen persönliche Immunität in bezug auf ihre Amtshandlungen, Schriftstücke und Unterlagen. Unter Verweis auf ihre Schweigepflicht könnten sie sich weigern, den Deutschen Bundestag zu unterrichten. Ein parlamentswidriges Abstimmen eines nationalen Vertreters im ESM kann auch nicht durch nationales Recht geahndet werden. Sollte ein Land die Auflagen der gewährten Hilfeleistung nicht einhalten, können die helfenden Länder keine Einstellung der Hilfe bewirken, diese Entscheidung faßt allein das Direktorium. Der Gouverneursrat hat keine Möglichkeit, die Zahlungen zu stoppen, ein einzelnes Mitglied sowieso nicht.

Der ESM-Vertrag öffnet die Tür, eine unbeschränkte Schuldenfinanzierung durch die Europäische Zentralbank (EZB) abzuwickeln. In der Praxis wird es entweder so laufen, daß der ESM Anleihen herausgibt und diese an private Banken verkauft, die wiederum zum Kauf neues Geld von der EZB bekommen. Oder der ESM, wenn er erst einmal etabliert ist und Kredite braucht, erhält eine Banklizenz mit direktem Zugang zu billigem EZB-Geld. Das, was im Maastricht-Vertrag ausgeschlossen werden sollte, stellt der ESM in Aussicht: Die EZB finanziert unverhohlen die Staatsschuld mit der Notenpresse.

Der ESM ist ein Trojanisches Pferd, um die nationalen Parlamente finanzpolitisch zu entmachten – und zwar durch vertragsmäßige Überrumpelung, wie es scheint. Er entspringt dem Geist, der ein sozialistisches Europa schaffen will, ein Europa, das viele Bürger vermutlich nicht wollten, als ihre nationalen Währungen zu Euros umgemünzt wurden.

 

Thorsten Polleit ist Chefvolkswirt der Degussa Goldhandel GmbH und Honorarprofessor an der Frankfurt School of Finance & Management.

www.thorstenpolleit.com

 

Fiskalpakt und ESM

Der Europäische Fiskalpakt (Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion) verpflichtet die Unterzeichnerstaaten zu strengerer Haushaltsdisziplin und gemeinsamer Fiskalpolitik. 1. Dazu gehören ausgeglichene Haushalte. Das jährliche Defizit darf nicht 0,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes überschreiten. 2. Nationale Schuldenbremsen sollen in allen Unterzeichnerstaaten in der Verfassung verankert werden. Der Europäische Gerichtshof überwacht die Umsetzung der Schuldenbremse auf nationaler Ebene. 3. Sanktionsmechanismen treten automatisch bei zu hohen Schulden in Kraft. Neue Schulden und Regelverletzungen müssen sofort nach Brüssel gemeldet werden, zudem sind Staatsschulden über 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes pro Jahr um ein Zwanzigstel abzubauen. EU-Kommission und Europäischer Rat überwachen die Haushaltspläne der Mitgliedsstaaten in der Fiskalunion. 4. Hilfen aus dem dauerhaften Europäischen Rettungsschirm ESM werden nur den Unterzeichnern des Fiskalpakts gewährt.

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