© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/12 29. Juni 2012

Jedes vierte Opfer war ein Mann
Malleus Maleficarum: Historiker relativieren den „Großen Hexenwahn“ zwischen etwa 1450 und 1750
Klaus Bruske

„Feind der Freundschaft, eine unausweichliche Strafe, ein notwendiges Übel, eine natürliche Versuchung, eine begehrenswerte Katastrophe, eine häusliche Gefahr, ein erfreulicher Schaden, kurzum: ein Übel der Natur.“

(Pater Kramer-Institoris in seinem „Hexenhammer“ 1486 über die Frau als solche, Übersetzung aus dem Mittel(alter)latein)

Der „Große Hexenwahn“ zwischen etwa 1450 und 1750 – ein ethisch schockierender Schandfleck in der zweitausendjährigen Geschichte des christlichen Abendlandes. Allerdings ist festzuhalten: Die Dimension des Grauens wurde lange maßlos übertrieben. Denn jetzt haben Geschichtswissenschaftler wie Wolfgang Behringer von der Universität Saarbrücken die „Causa Hexenverfolgung“ einmal genauer unter die Lupe genommen. Ihr Schluß: Jedes vierte Opfer war ein Mann. Viele Täter nicht Katholiken, sondern Protestanten. Vor allem aber sei die Horrorzahl von angeblich neun Millionen Frauen, Männern und Kindern der „großen Hexenjagd“ aus der Luft gegriffen und legendenhaft aufgepustet.

In Wahrheit seien es zwischen 50.000 und 60.000 Todesopfer in drei Jahrhunderten gewesen, bezogen auf ganz Europa, so Deutschlands „Hexen-Professor“. Das sei für sich gesehen fürchterlich genug und doch im historischen Kontext keine ungeheure Dimension. Zum Vergleich: Etwa in der Seeschlacht vor Lepanto, als am 7. Oktober 1571 die Galeeren der Heiligen (christlichen) Liga die Kriegsflotte des türkischen Sultans auf den Meeresgrund schickten, starben um die 45.000 Menschen.

„Ein neues Feindbild entstand im ausgehenden Mittelalter“, schreibt Herausgeber Behringer in seinem Quellen-Sammelband „Hexen und Hexenprozesse in Deutschland“ (2000) weiter. Er fährt fort: „Die Hexen schienen die christliche Gesellschaft von innen her zu bedrohen.“ Hexenverfolgungen setzten ein, in Deutschland später als in Süd- und Südwesteuropa. Dafür aber intensiver und bis weit in die Neuzeit hinein. Und mit großer Sicherheit kann man heute sagen, daß etwa die Hälfte der geschätzten 50.000 bis 60.000 Hexenverbrennungen Europas in Deutschland, das sich damals von der Zuidersee bis zur March und von Pommern bis Ligurien erstreckte, stattgefunden haben. Hier lag das Zentrum der Hexenverfolgungen, die in den zwei Generationen zwischen 1560 und 1630 ihren Höhepunkt erreichten.

Also keineswegs im „finsteren Mittelalter“, wie man immer wieder hören kann, sondern in der Frühen Neuzeit. Amerika war längst entdeckt. Die Kopernikanische Wende hatte schon stattgefunden. Zeitgenossen der Hexenverfolgungen waren Shakespeare, Descartes, Bacon, Galileo Galilei oder Johannes Kepler, dessen Mutter in einer württembergischen Kleinstadt beinahe als Hexe verbrannt worden wäre. Die Wissenschaftsrevolution fand genau im Zeitalter der Hexenprozesse statt.

Mit am Anfang aber stehen die Hexenbulle „Summis desiderantes affectibus“, die Papst Innozenz VIII. am 5. Dezember 1484 erläßt, und der legendär berüchtigte „Hexenhammer“, lateinisch „Malleus Maleficarum“, verfaßt wohl 1486 von dem aus Schlettstadt im Elsaß stammenden Dominikanerpater Heinrich Kramer, genannt Institoris. Beide Brand- und Kampfschriften heben den Hexenwahn gleichsam auf die höchste theologisch-theoretische Ebene der Zeit. Sie begründen jene große Rechtfertigungslehre des Grauens, die sich, übrigens gegen mannigfaltige Widerstände, lange, zu lange, behauptet.

Die Dorfhexe, die mit ihrem Schadenszauber Hagelstürme und Schneckenplagen heraufbeschwört, das Vieh krank und die Nachbarsfrau unfruchtbar macht – dies ist für Kramer-Institoris eine naive Idee von vorgestern. Etwas viel Größeres sei da im Gange. Hexen und Zauberer sind für ihn bei weitem nicht mehr Einzeltäter, sondern Teil einer geheimen Verschwörung, einer kriminellen Organisation ungeahnten Ausmaßes. Sie sind gewissermaßen Satans „Soldaten“ und „Soldatinnen“, organisiert in „teuflischen Zellen“, zusammengefaßt in einer weltumspannenden „Luzifer-Mafia“, die sich zum Ziel gesetzt hat, das „Reich Gottes“ zu stürzen und das „Reich des Teufels“ aufzurichten.

Anhand von fünf Delikten, so verrät der „Hexenhammer“, lasse sich nach diesen weiblichen und männlichen „Mafiosi“ fahnden und – wenn es sein muß auf der Folter, und es muß sein! – jene Satans-Bräute und Satans-Jünger auch im Sinne des Wortes „todsicher“ überführen. Ad primum: Sie üben Schadenszauber aus. Ad secundum: Sie sind einen Pakt mit dem Teufel eingegangen. Ad tertium: Sie geben sich der Buhlschaft hin, das heißt dem Sex mit dem Teufel, der Männern hierbei praktischerweise in verführerischer Frauengestalt erscheint. Ad quartum: Sie beherrschen den Ritt durch die Lüfte. Ad quintum: Sie nehmen am Hexensabbat teil.

Vor allem das fünfte Delikt erweist sich als Brandbeschleuniger der jetzt mit Macht einsetzenden Massenverfolgungen. Die geheimen Hexensabbate gelten als zügellose Orgien und zugleich als konspirative Treffen, auf denen neue Untaten verabredet werden. Wer also solche teuflischen Konferenzen besucht, weiß, wer mit von der Partie ist. Die sogenannte „Besagung“, die Denunziation Dritter unter der Folter, wird so zum Auslöser von Kettenprozessen. Jede Anschuldigung bringt neue Verdächtige ans Tageslicht. Kramers „Hexenhammer“ aber wird zum „Longseller“, der in den kommenden Jahrhunderten an die dreißigmal neu aufgelegt wird.

Sage nun keiner, all das sei nur dem verklemmten Geist eines im Zölibat lebenden, seine angestauten Triebe in gewalttätiger Lust- und Frauenfeindlichkeit sublimierenden, katholischen Dominikanermönches geschuldet. Selbst die evangelische Lichtgestalt Martin Luther („Satan hebe Dich hinweg!“) stößt damals ins selbe Horn. Vom Reformator, der nach eigener Aussage mit seiner Angetrauten Katharina von Bora ein keineswegs langweiliges („In der Woche vier ...“) Eheleben pflegt, ist der Satz überliefert: „Die Zauberinnen schaden mannigfaltig. Also sollen sie getötet werden. Nicht allein, weil sie schaden, sondern, weil sie Umgang mit dem Satan haben.“

Der russische Historiker Josef Grigulewic kommentiert jenes Phänomen in „Ketzer – Hexen – Inquisitoren“ (2000) im Kapitel „Die lange Jagd auf Hexen“ so: „Die protestantischen Kirchen, die manchen Aberglauben ablehnten, der dem Katholizismus eigen war, und die Verbrechen der Inquisition entlarvten, teilten gleichwohl die katholische Dämonologie und setzten die Hexenverfolgung mit nicht geringerem Eifer fort (...) Katholiken und Protestanten stritten sich über den Himmel, was aber die Hölle betraf, so waren sie fast einer Meinung.“

Auf diese Weise wird denn der Hexentod zum Großmeister in Deutschland. Bemerkenswerterweise auch in den protestantischen Regionen und Städten. Etwa im lutherischen Mecklenburg sterben 2.000 vermeintliche Hexen. Osnabrück verurteilt allein 1583 mehr als 120 „Satansbräute“ zum Tode. In Spanien zum Vergleich werden hingegen insgesamt „nur“ 300 Hexen hingerichtet, in Portugal höchstens sieben, im ebenfalls katholischen Irland müssen vier Hexen sterben. Spaniens „Glaubenswächter“ vor allem sind damals mit „echten“ Gottesfeinden, mit „echten“ Ketzern, ausgelastet und haben keinen Sinn für solch abergläubischen Kleinkram wie Hexen oder Zauberer.

Wie aber kommen nun die oft kolportierten über neun Millionen Opfer des „Großen Hexenwahns“ in die Welt? Behringer, der jene Horrorzahl als Mythos entlarvt hat, nennt zwei Gründe: Zum einen eine fahrlässige Deutung der originalen Quellen durch Hobby-Historiker. Verhörprotokolle, in denen damalige Hexenjäger die Bedrohung durch die Teufelsbünde und die „Luzifer-Mafia“ aufbauschen, werden in späteren Jahrhunderten als seriöse Dokumente und bare Münze gewertet. Zum anderen: Die Opferzahlen werden von diesen späteren Autoren auch mutwillig gefälscht und aufgepustet.

Als Ur-Lügenbold, welcher bis heute nur zu gern eifrige Abschreiber findet, ist indes der weiland Quedlinburger Stadtsyndikus und selbsternannte protestantische Aufklärer Gottfried Christian Vogt dingfest gemacht. Er setzt anno 1784 den „Neun-Millionen-Mythos“ (bei ihm „exakt“ 9.442.994 Hinrichtungen) in die Welt, indem er die Horrorzahl kühn aus einigen regionalen Prozeßakten auf ganz Europa sowie auf das Jahrtausend zwischen dem 7. und dem 17. Jahrhundert hochrechnet. Etwa ein Jahrhundert darauf hingegen, im „Bismarckschen Kulturkampf“ gegen den „Politischen Katholizismus“, werden die Hexenverfolgungen dann von protestantischen Wortführern gern als ideologische Waffe exklusiv der katholischen Kirche angelastet. In den heutigen Tagen dienen die Hexenverfolgungen gern als Beleg dafür, daß nicht nur der Katholizismus, sondern das Christentum als solches jeden moralischen Anspruch verwirkt habe. Da machen sich neun Millionen eben spektakulärer als 60.000 Opfer.

Foto: Hexenverbrennung Ende des 16. Jahrhunderts, vermutlich in Lothringen: Hexen und Zauberer werden nicht mehr als Einzeltäter, sondern als Teil einer geheimen Verschwörung, einer kriminellen Luzifer-Mafia verfolgt

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