© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/12 29. Juni 2012

Die Entzauberung des Selbst
Bewußtseinsforschung: Das neue Bild vom Menschen in den kognitiven Neurowissenschaften
Jörg Kremer

Neben dem „Urknall“ und der Entstehung organischen Lebens auf der Erde gehört die Entstehung des Bewußtseins zu den größten ungelösten Rätseln der Wissenschaft. Zwar häufen sich in jüngster Zeit hierzu neurowissenschaftliche Hypothesen. Aber von ihnen und dem bunten Angebot ihrer Erklärungsmodelle geht bisher lediglich eine inzwischen unübersichtliche Debatte aus, die allerdings engere Expertengrenzen überstiegen hat. Denn schließlich kann hier jeder mitreden, verfügt er doch, worum es geht: Bewußtsein und Selbstbewußsein.

Auf reges Publikumsinteresse stoßen daher Sachbücher mit provokanten Titeln wie „Die Ich-Illusion“ des US-Hirnforschers Michael S. Gazzaniga oder Artikel-Serien, die die so schlicht klingende Frage „Was ist das Ich?“ stellen und die Präsentation gesicherter Resultate im Untertitel suggerieren: „Hirnforscher, Psychologen und Philosophen entschlüsseln unser innerstes Wesen“ (Zeit Wissen, 2-6/12). Dabei ist auch den Zeit-Autoren Ulrich Bahnsen und Ulrich Schnabel klar, daß die „Entschlüsselung“, der Vorstoß zu jenem „mysteriösen Kern“, der Menschen zu Individuen macht und der das „Geheimnis des Selbst-Bewußtseins“ birgt, erst begonnen hat.

Gleichwohl ist ihre Reportage aus den Laboren der Bewußtseinsforschung repräsentativ für die popularisierende Vermittlung dieses Segments der Neurowissenschaften. Es werden nämlich immer die gleichen Forscher befragt, die mittlerweile zu Medienlieblingen avanciert sind wie Gazzaniga, der Mainzer „Bewußtseinsphilosoph“ Thomas Metzinger, der Neurologe Olaf Blanke, der am Lausanner Zentrum für Neuroprothetik seine Vorstellungen von „gehirngerechten“ Arm- und Beinprothesen realisieren möchte, oder die Biologen und Psychologen vom Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie, die in zahllosen Versuchsanordnungen bemüht sind, ihre These zu untermauern, Bewußtsein entstehe phylo- wie ontogenetisch (also sowohl bezüglich der stammesgeschichtlichen Entwicklung wie auch der individuellen psychischen Entwicklung) aus sozialer Interaktion. Daß menschliches Bewußtsein im Lauf der Evolution deshalb entstand, weil es den homo sapiens instand setzte, „effektiv als Gruppe zu agieren“.

Das ist nicht falsch, aber auch nicht wirklich neu. Die solchen Aussagen inhärenten Probleme, den Leipzigern natürlich geläufig, den Zeit-Autoren offenbar nicht, ergeben sich aus der philosophischen Urfrage nach den Anfängen des Sprachgebrauchs. Der US-Molekularbiologe und Medizin-Nobelpreisträger Gerald M. Edelman (Gründer des Neurosciences Institute in San Diego) und sein Kollege Giulio Tononi (University of Wisconsin), die einem Laienpublikum erläutern möchten, „wie aus Materie Bewußtsein entsteht“ („Gehirn und Geist“, München 2002), sind zwar ebenfalls der Ansicht, daß mit der Ausprägung linguistischer Fähigkeiten als Basis sozialer Interaktion „die Blütezeit des Bewußtseins höherer Ordnung“ beginnt, sich also individuelles Bewußtsein formt, das sich seiner selbst bewußt wird, indem es sich von anderen unterscheidet.

Aber beide Mediziner setzen auch „erhöhte begriffliche Fertigkeiten“ voraus, die bei den ersten Hominiden bereits „angelegt“ gewesen sein müssen. Das führt sie auf den umstrittenen Zusammenhang von Sprechen und Denken, und im Vergleich mit Menschenaffen müssen sie sogar auf den vagen Begriff des „Sprachtriebs“ rekurrieren, der dem Menschen eigen sei, nicht aber Schimpansen, die über einen „gewissen Grad“ an Selbstbewußtsein verfügen, ohne zur Sprache „gedrängt“ zu werden. Damit bleibe ihnen der Weg zum höheren Bewußtsein versperrt, den die Sprache als Medium der Reflexion, der Fähigkeit zur Subjekt-Objekt-Unterscheidung, der Abgrenzung zwischen Ich und Welt eröffne.

Die Forschungen des Lausanner Neurologen Blanke zum Körpergefühl wirken dagegen weniger kompliziert. Ausgehend vom Körpergefühl, das als Grundstimmung unser Selbstbewußtsein fundiert, repetiert er das Mantra der Hirnforschung, wenn er dieses existentielle Gefühl dem „permanenten Konstruktionsprozeß unseres Gehirns“ zurechnet, das damit beschäftigt ist, alle eingehenden Informationen zu einem „möglichst konsistenten Bild des Körpers und des Selbst“ zu verdichten. Hirnmechanismen, so Blanke, verarbeiten die Signale der Sinnesorgane zu stabiler Körperrepräsentation.

Mit Konsequenz stehen Blankes zerebrale „Konstruktionen“ im Mittelpunkt von Thomas Metzingers „Selbstmodell“. Der Philosoph, dessen Werk „Der Ego-Tunnel“ (2009) schon in vierter Auflage erschien und sogar auf dem Taschenbuchmarkt reüssiert, stellt sich das unfaßbare Ich nicht als Ding, sondern „Vorgang“ vor. Einen stabilen personalen Kern kennt Metzinger sowenig wie gar eine „unwandelbare Seelensubstanz“. Unser Gefühl, ein einzigartiges Subjekt zu sein, sei nur ein „abstraktes Datenformat“, das einen Informationsstrom reguliert.

Da alle wissenschaftliche Theorie vom Zeitgeist infiltriert ist, der mittelalterliche Geozentrismus vom christlichen Weltbild, Darwins „Kampf ums Daseins“ vom Manchesterkapitalismus, so meint man in Metzingers Verflüssigung des Ich die Aversionen des multikulturellen Universalismus gegen feste Grenzen zu spüren. Insoweit taugt Metzingers Bestseller auch als Stichwortgeber der „liquid democracy“ der Piratenpartei, die auf den Charme der politischen Augenblicksexistenz spekuliert.

Der bisher wuchtigste Angriff auf diese „materialistische Dekonstruktion des Selbstbewußtseins“ stammt von dem Frankfurter Theologen Lukas Ohly (Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 2/11). Gebe es keine Subjektivität, ist nicht nur die Gotteserfahrung Illusion, sondern auch die Hoffnung auf Auferstehung, die „meine“ Auferstehung ist. Um diesen „theologischen Super-Gau“ zu verhindern, trägt Ohly eine scharfsinnige Widerlegung von Metzingers Repräsentationsmodell und dessen des „Entzauberung des Selbst“ vor.

Das „neue Bild“ des von seinen religiösen Wurzeln abgeschnittenen Menschen, das die kognitiven Neurowissenschaften entwerfen, dürfte Ohlys Einspruch aber kaum trüben. Daher scheint wenig gegen Metzingers Prognose zu sprechen, die von der Wissenschaft des reichen Westens getragene „Bewußtseinsrevolution“ könnte den „Zusammenprall der Kulturen“ befördern, da sie vorwissenschaftliche Weltbilder negiere, in denen 80 Prozent der ärmeren Weltbevölkerung sich seelisch geborgen fühlen.

Gespräch mit dem Philosophen Thomas Metzinger im Schweizer Sender SF Kultur: www.youtube.com

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