© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/12 06. Juli 2012

„Das nennt man dann Revolution“
Grundgesetz: Eine Berliner Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung lotet die verfassungsrechtlichen Grenzen der europäischen Integration aus
Christian Schwiesselmann

Es begann mit einem Scharmützel zwischen Ferdinand Kirchhof und Hans-Gert Pöttering. Der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts fühlte sich von dem ehemaligen EU-Parlamentspräsidenten provoziert. Der jetzige Vorsitzende der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung hatte in der vergangenen Woche am Vorabend der 7. Berliner Rechtspolitischen Konferenz den Bogen überspannt und dem höchsten deutschen Gericht vorgeworfen, es habe im Lissabon-Urteil seinen Blick verengt und sich wenig offen für europäische Besonderheiten gezeigt.

Karlsruhe spreche dem EU-Parlament die Legitimität ab und habe dessen Funktionsweise geschwächt: „Bedauerlich ist vor allem eine gewisse Geringschätzung des Europäischen Parlaments, die aus dem Urteil zur Fünf-Prozent-Hürde spricht“, beklagte Pöttering faktisch vor allem die Schwächung der „Volksparteien“, denen nun mehr Konkurrenz droht. Kirchhofs Replik, auch Verfassungsrichter würden die „europäische Idee“ hochhalten, wirkte reichlich defensiv. Es zeigt die funktionelle Oppositionsrolle, in die Karlsruhe gerutscht ist, seitdem sich die Parteien auf dem Weg in den europäischen Bundesstaat einig geworden sind.

Wolfgang Schäuble (CDU) hatte unfreiwillig dafür gesorgt, daß die Rechtspolitische Konferenz über die „Finanzkrise als juristische Zeitenwende“ thematisch eine Punktlandung wurde. Der Bundesfinanzminister hatte zuvor im Spiegel-Interview angedeutet, daß angesichts der offenkundigen Staatswerdung der EU eine Volksabstimmung über das Grundgesetz nahe sei. Die anwesenden Staatsrechtler standen also vor der Herausforderung, die Grenzen des Grundgesetzes für die Übertragung von Hoheitsrechten auszuloten, die sich aus dem Europa-Artikel 23 und der „Ewigkeitsgarantie“ des Artikels 79 Absatz 3 ergeben.

Am politischen Willen ließ Michael Link (FDP), Staatsminister im Auswärtigen Amt, keinen Zweifel. Bereits in ihren Parteiprogrammen haben sich die Koalitionsparteien auf den europäischen Bundesstaat festgelegt und streben eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten sowie das Initiativrecht des EU-Parlaments an. Link gestand ein, daß die anderen Mitgliedsländer Deutschland hier nicht folgen würden. Vor allem die Südländer wünschen sich eher einen „Ministerrat mit Banklizenz“.

Elmar Brok, wie Pöttering Urgestein der CDU im EU-Parlament, rührte kräftig die Werbetrommel für die Preisgabe weiterer Hoheitsrechte. Geschickt zitierte er den ehemaligen Kommissionspräsidenten Walter Hallstein, der die EG mit Augustinus als creatio continua beschrieb. Aus Sicht von Brok ist die Euro-Krise eine Vertrauenskrise der Märkte, die nicht mehr an die Durchsetzungsfähigkeit von Regeln glaubten. Der Sündenfall habe mit der Aufweichung der Maastricht-Kriterien begonnen, und die Schröder-Regierung sei daran nicht ganz unschuldig.

Auch Klaus-Heiner Lehne (CDU), Vorsitzender des Rechtsausschusses im EU-Parlament, bestätigte das Problem, Haushaltsdisziplin europaweit durchzusetzen. Brüssel könne die Mitgliedsländer nicht militärisch oder polizeilich zwingen, sondern letztlich nur Strafzahlungen vom Europäischen Gerichtshof verhängen. Während er wie Schäuble für eine Volksabstimmung plädierte, blieb Günter Krings, stelllvertretender CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender im Bundestag, skeptisch. Im Verfassungsstaat gebe es keinen Souverän, das Volk könne nicht besser entscheiden als der Gesetzgeber, erklärte der Rechtspolitiker.

Der Bonner Jurist Matthias Herdegen gehört dagegen zum wachsenden Chor der Staatsrechtslehrer, die mit dem Fiskalpakt die Grenzen des Grundgesetzes erreicht sehen. Die Widerstandslinien der Politik gegen den Kompetenzabfluß nach Brüssel bewegten sich zuweilen wie Wanderdünnen. Eine Haftungsunion sei mit dem Grundgesetz jedenfalls nicht zu vereinbaren. „Ein Staat, der seinen Haushalt mit der EU teilt, wäre rechtlich nicht mehr frei“, kritisierte der Institutsdirektor. „Das, was über das Grundgesetz hinausgeht, kann die Politik machen, aber das nennt man dann Revolution.“ Ähnlich äußerte sich der Göttinger Europarechtler Frank Schorkopf. „Es gibt keinen Sachzwang zur politischen Selbstpreisgabe der Republik“, meinte der 1970 in Hamburg geborene Schüler des ehemaligen Verfassungsrichters Udo Di Fabio. Natürlich könne sich ein Volk freiwillig in Ketten begeben.

Schorkopf verwies aber auf die Schranken des Grundgesetzes und warnte vor der „benevolenten technokratischen Bürokratie“, die Prozesse am Parlament vorbei beschleunige. Den EU-Mitgliedsstaaten drohe die Kommunalisierung. Zugleich problematisierte er ein mögliches Referendum über den Fortgang der EU-Vertiefung. Schon bei der Frage müßte man sorgsam formulieren: „Ist das Volk bereit, auf Souveränität und Eigenständigkeit zu verzichten?“

Für Udo Di Fabio hat Schäuble eine „Phantomdebatte“ losgetreten. Souveränität könne man nicht scheibchenweise übertragen, sondern genau einmal. Bisher habe man lediglich staatliche Hoheitsrechte an die EU übertragen. Die gängige Politikrhetorik, wonach die EU ein Fahrrad sei, das umfalle, wenn es nicht weiterfahre, zünde Nebelkerzen. Das Sprachbild sei schief, weil nur ein Fahrrad ohne Radler und Bremsen umfalle. Die Bewegungsmetapher sei symptomatisch für das Immer-schneller, Immer-mehr und Immer-weiter, las Di Fabio den EU-Politikern die Leviten. Ein gefährlicher Selbstlauf deute sich an, wenn die Politik nicht endlich ein finales Integrationsziel bestimme.

Leidenschaftlich verteidigte der 1954 in Walsum geborene Jurist das von ihm mitverantwortete Lissabon-Urteil gegen die postmodernen Kritiker – auch in der eigenen Zunft. Europa ist kein „Staatenverbund“, sondern eine „Vertragsunion“. Deutschland sei frei und zugleich gebunden, da eine rechtliche Bindung immer freiwillig geschehe und nicht irreversibel sei, dozierte Di Fabio wortgewaltig. Die jüngeren Kollegen erblaßten im Furioso des Bonner Staatsrechtlers, danach lichteten sich die Reihen in der Akademie am Tiergarten.

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