© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/12 06. Juli 2012

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Das Urteil des Landgerichts Köln, daß die Beschneidung eines Kindes als Körperverletzung zu werten sei, ruft erhebliche Kritik hervor. Es finden sich da plötzlich Traditionsfreunde, wo man sie gar nicht erwartete. Das allein erklärt aber nicht die sofortige Solidarisierung der Kirchen mit Juden und Moslems. Wahrscheinlich geht es weniger um Nützlichkeitserwägungen – Verteidigung der Gestaltungsfreiheit von Religionsgemeinschaften –, als um die Angst, in die antisemitische oder islamophobe Ecke gedrängt zu werden. Deshalb vergißt man eilfertig die ganze neutestamentliche Polemik gegen die Beschneidung und vor allem das, was der Apostel Paulus sagte, der nur die „Beschneidung durch Christus“ (Kolosser 2.11), also die Taufe, gelten lassen wollte und jede andere als äußerlichen und im Grunde schädlichen Brauch verwarf.

Es ist mit dem Liberalismus wie mit jedem Luxusgut: man muß es sich leisten können.

Die neuen Untersuchungen, die besagen, daß Frauen häufiger einen Arzt aufsuchen als Männer, mehr Medikamente nehmen, nicht zuletzt Schmerzmittel, und regelmäßiger zu Psychopharmaka greifen, lassen im Grunde nur einen Schluß zu, der aber natürlich keinesfalls gezogen wird: Frauen bekommt die Emanzipation nicht.

Zu den merkwürdigen Renaissancen gehört das wiedererwachte Interesse an Nahtodeserfahrungen. Man hätte meinen können, es sei zu dem Thema in den achtziger Jahren alles gesagt. Aber wer wollte bestreiten, daß der Bericht des kleinen Colton Burpo über seinen Besuch im Jenseits etwas Tröstliches hat. Allerdings wirkt die Beschreibung des Himmels doch ziemlich zeitgeistkonform, mit der einen Ausnahme, daß die Engels-chöre keine Songs von Queen intonieren. Ansonsten wird man auf die Beschäftigung mit einem Thema vergeblich hoffen, das auch bei der letzten Konjunktur moderner Jenseitsfahrten vollständig an den Rand gedrängt wurde: die Nahtodeserfahrungen derer, die sich in die Hölle versetzt sahen. Es hieß gelegentlich, daß bis zu fünfzehn Prozent der Betroffenen furchtbare Erlebnisse hatten, in denen sie für ihre Sünden mit Schrecken und Qualen bestraft wurden, die durchaus an die Bilder eines Hieronymus Bosch erinnerten.

Nun ist also herausgekommen, daß der Dalai Lama in den fünfziger Jahren mit der CIA zusammengearbeitet hat, um Insurgenten zu trainieren, die dann auf dem Gebiet seiner chinesisch besetzten Heimat einen Partisanenkrieg entfesseln sollten. Seiner pazifistischen Aura wird das kaum schaden, Friedensfreunden verzeiht man solche Inkonsequenzen leicht. Wer hätte je den Status von Gandhi in Frage gestellt, nur weil der bereit war, indische Soldaten für den Kampf gegen die Achsenmächte (die Verbündeten seines Konkurrenten in der Nationalbewegung) rekrutieren zu lassen, oder Einstein, der es lieber gesehen hätte, wenn die erste Atombombe über Berlin statt über Hiroshima gezündet worden wäre.

Bildungsbericht in loser Folge XXV: Die Pläne für ein „elektronisches Klassenbuch“ des Landes Berlin fallen weniger unter Absonderlichkeiten der Bürokratie oder Hilflosigkeit im Pädagogischen. Die Absicht, den Schüler vollständig zu erfassen und einen permanenten Informationsaustausch zwischen Schule, Lehrer, Eltern und Verwaltung zu erzwingen, ist vielmehr ein weiteres Beispiel für die Kosten des Liberalismus. Wenn man den Regelgehorsam fast vollständig abgebaut hat und auf die Verinnerlichung der Ethik kein Verlaß mehr ist, bleibt eben nur totale Kontrolle. Insofern fügt sich alles zu jenem Gesamtbild, dessen Konturen durch Gesinnungsprüfung, Biometrie und Überwachung öffentlicher Räume längst vorgezeichnet sind.

Unter denen, die das Kölner Urteil zur Beschneidung stützen, sucht jeder den Verdacht zu meiden, es gehe hier um kulturell motivierte Ablehnung. Dabei ist der entsprechende Verdacht der jüdischen wie der islamischen Gemeinschaft durchaus begründet. In Europa ließ sich seit der Antike eine sukzessive Abwendung von den seit alters üblichen Praktiken der Körpersymbolik (Narbung, Amputation, dauerhafte Bemalung) beobachten. Aufschlußreich ist weiter, daß die „Gottesfürchtigen“, von denen im Neuen Testament gesprochen wird, die Sympathien für den Monotheismus und die Idee einer ethischen Religion hatten, doch den Übertritt zum Judentum vermieden, wegen der Notwendigkeit, sich die Vorhaut abtrennen zu lassen. Derartiges galt als Verstümmelung und als barbarisch, so wie übrigens auch die Tätowierung, die die Römer mit Abscheu betrachteten. Der Prozeß hat sich unter dem Einfluß des Christentums kontinuierlich fortgesetzt und zur Abdrängung der Gezeichneten in Randgruppen geführt. Daran, daß der europäische Schönheitsbegriff immer mit Unversehrtheit zusammenhing, ist jedenfalls nicht ernsthaft zu zweifeln.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 20. Juli in der JF-Ausgabe 30/12.

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