© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/12 06. Juli 2012

Bis heute lagern deutsche Kulturgüter völkerrechtswidrig in Rußland
Vergessene Trophäen
Herbert Güttler

Die kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland sind über 300 Jahre alt und erleben nun ein „Kulturjahr“. In Moskau, Sankt Petersburg und anderen Städten sind aber immer noch unschätzbare Kulturwerte aus Deutschland gelagert, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die Sowjetunion verschleppt wurden: Diese „Kriegsgefangenschaft“ ist eine Blamage für diejenigen, die trotzdem die jahrhundertealten Beziehungen zwischen unseren Ländern hochjubeln. Denn auch in Rußland, das immer noch Kunstwerke, Bücher und Archivalien völkerrechtswidrig festhält, weiß man um den hohen Wert der Kulturbeziehungen unserer Länder.

Bewacht von den Museumsdirektoren Irina Antonowa und Michail Piotrowski, liegen in den russischen Depots, Kellern und Archiven immer noch – 67 Jahre nach Kriegsende – verschleppte „Trophäen“ aus Deutschland, so wurden sie zu Stalins Zeiten bezeichnet. Soweit sie überhaupt einen Handelswert haben, repräsentieren sie Milliardenwerte. Immerhin hatte die Bundesregierung unter Helmut Kohl erste Versuche von Privatpersonen, Plündergut der Sowjets in London zur Versteigerung anzubieten, auf dem Rechtswege verhindern können. In einem Prozeß vor dem High Court durfte ein wertvolles Gemälde, das nach Moskau verschleppt wurde, über mehrere Stationen nach Schloß Friedenstein in Gotha zurückkehren. Die Gerichtskosten beliefen sich allerdings auf weit über eine Million D-Mark. Informell konnte damals russischen Geschäftsleuten auf diversen Kanälen zu verstehen gegeben werden, daß einer Verhökerung verschleppter Kunstwerke aus deutscher Sicht nicht tatenlos zugesehen würde.

So stellt sich also die Frage, wie sich angesichts erfreulicher Beziehungen zu Rußland heute die riesige Deponierung von Kunst, Literatur und Archivalien mit dem Austausch zwischen Museen, Künstlern, Archäologen und Literaten vereinbaren läßt. Was plant man in Moskau mit der Konservierung von Kriegsbeute, was nützen übervolle Depots hinter verschlossenen Türen? Wartet Putin als Nachfolger Jelzins, der Rückgaben noch zugesagt hatte, auf Geld für verschleppte Kulturwerte aus Deutschland?

Irina Antonowa, über 90 Jahre alt und äußerst umtriebig, war als Major der Roten Armee im Auftrag Stalins gleich nach Kriegsende mit den sogenannten Trophäenkommissionen nach Berlin und Mitteldeutschland gereist und wußte, wo sie und andere russische Fachleute sich in Museen, Bibliotheken und Depots fachkundig bedienen konnten. Sie hat das Wegschaffen der Kriegsbeute als „Rettungstat“ bezeichnet, deutsche Kustoden damit inkriminiert und die Schleppzüge nach Moskau als Bewahrung des Weltkulturerbes dargestellt. Ihre Auffassung ist auch heute noch regierungsoffiziell.

Nach Feststellungen des Bundesministeriums des Innern fuhren ab Mai 1945 mindestens 13 Militärzüge mit Hunderten von Waggons mit Kunstwerken, Gemälden, Sammlungsteilen, Büchern, Handschriften, Archivalien und so weiter nach Moskau, wo sie offenbar „freihändig“ und unsystematisch in die Unionsrepubliken der Sowjetunion verteilt wurden. Daneben aber durften auch sowjetische Soldaten ihre private Kriegsbeute mit heimnehmen, So gab der russische Oberst Baldin seinen gesamten Wehrsold her für den „Ankauf“ von 362 Gemälden und Zeichnungen, die seine Kameraden geplündert hatten. Die ehrenvollen Versuche von Baldin und später seiner Witwe, die Sammlung der Kunsthalle Bremen zurückzugeben, scheiterten an der russischen Bürokratie.

Öffentliche und private Sammlungen in Deutschland hatten in den ersten Nachkriegsmonaten ihre wertvollsten Stücke verloren, besonders in Mittel- und Ostdeutschland. Aber auch Museen aus dem Westen des Reiches waren betroffen, ihre Sammlungen waren aus Furcht vor alliierten Bombenangriffen in den Osten ausgelagert. Im Zuge des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft gab die Sowjetunion zwar einen Teil ihrer Beute an ihr Brudervolk in der DDR zurück, behielt aber auf Beschluß des Zentralkomitees der KPdSU einen Großteil mit der (unbegründeten) Vermutung, in Deutschland befände sich noch russisches Kulturgut. So warten noch heute in Rußland mehr als 200.000 Museumsstücke, zirka 4,8 Millionen Bücher und drei Kilometer Archivalien auf ihre Heimkehr. Darunter viele Kulturschätze und Kunstwerke, die Kulturhistoriker in Deutschland für verloren hielten.

Beispiele: Die Ausgrabungen von Heinrich Schliemann (Schatz des Priamos), der Eberswalder Goldschatz, Gutenberg-Bibeln aus Leipzig, Unersetzliches aus dem Museum für Vor- und Frühgeschichte, die Rüstkammer von der Wartburg, die Merowinger-Sammlung, wertvollste Bücher aus der Forschungsbibliothek in Gotha, der Herzoglichen Bibliothek in Meiningen – alles fein säuberlich in einer Aufstellung unter Regie des Bundesministers des Innern beschrieben.

Für eine Rückführung dieser „Kriegsgefangenen“ sprechen nicht nur das Völkerrecht und die von der Bundesregierung mit der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten abgeschlossenen Verträge. Auch Vertreter der Kultur und des Geisteslebens, besonders in Rußland und Polen, geißeln die Staatenpraxis, die Beutekunst nicht zurückzuführen. Zudem hatte Boris Jelzin seinem Duzfreund Helmut Kohl mehrfach Rückgabezusagen gegeben. Auch der polnische Staatspräsident und der Krakauer Erzbischof sprachen sich für eine Rückführung deutscher Kulturwerke aus Polen aus. Leider hatte auch unser Nachbarstaat nicht nur den Kulturbesitz von Vertriebenen enteignet, sondern ist durch seine Westverschiebung als beatus possidens in den Besitz von nach Schlesien ausgelagerten Kulturgütern gelangt.

An erster Stelle ist hier Krakau zu nennen, in dessen Jagiellonischer Bibliothek große Teile der deutschen Literaturgeschichte aus der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin erfreulicherweise fachkundig aufbewahrt werden. Die 500.000 Bücher, Autographen, Zeitschriften seien ein Teil des Gedächtnisses unseres Volkes, meinte der ehemalige Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Klaus-Dieter Lehmann. Gerade dieses Beispiel zeigt, daß eine Rückführung von Kulturbesitz auch Sinn hat – unabhängig von Recht und Vertrag. Denn deutsche Bücher in sprachfernen Betreuungsorten wie dem sibirischen Omsk verlieren im kulturhistorischen Zusammenhang ihren Wert.

Zu Beginn der 1990er Jahre wurde die Bundesrepublik nicht nur vom Zerfall der UdSSR, sondern auch vom Auftauchen vieler Beutestücke förmlich überrascht. Dem Auswärtigen Amt gelang erfreulicherweise, mit den Staaten fast gleichlautende Verträge über die Rückgabe deutschen Kulturguts abzuschließen. Es begannen mit Moskau, Kiew, Warschau und den Hauptstädten ehemaliger Sowjetrepubliken Verhandlungen auf Ministerebene, die insgesamt mehr als zehn Jahre andauerten.

Wegen des Wortlautes der Verträge, des unbedingten Rückgabegebots des Völkerrechts und der demokratischen Perspektive im damaligen Ostblock war nicht nur die Stimmung fast euphorisch, sondern die Erwartungen auf deutscher Seite eindeutig: Man verhandelte über die gegenseitige Rückgabe von Kulturgut in toto und nicht über Einzelheiten oder gar finanziellen Ausgleich. Wenn schon die kommunistische Sowjetunion fast die Hälfte des aus Deutschland verschleppten Kunstbesitzes der DDR zurückgegeben hatte, warum sollte dann die Russische Föderation, die zudem gerade in den Besitz von Hilfsgütern und finanziellen Unterstützungsleistungen aus Deutschland in Milliardenhöhe gelangt war, zurückstehen?

Die Verhandlungen wurden zäher und zäher, mit Ausnahme einzelner Gesten aus Rußland blieben sie ohne wesentlichen Erfolg. Die Rückgabe der Chorfenster von Sankt Marien nach Frankfurt/Oder aus Sankt Petersburg und des Bacharchivs in Leipzig aus Kiew als freundliche Ausnahmen seien erwähnt: Die jahrzehntelange Deponierung dieser wunderschönen Fenster – wohl süddeutscher Provenienz – mit der erstmaligen Darstellung des Leibhaftigen war auch für hartnäckige Ignoranten in Rußland beschämend, zumal die russisch-orthodoxe Kirche keine Glasmalereien solcher Güte kannte.

Da auf beiden Seiten zahlreiche Fachleute mitverhandelten, feierte auch die russische Bürokratie bald fröhliche Urstände: Visa wurden verzögert, Termine verlängert, Wartelisten eingeführt und gegenseitige Fachgespräche erschwert. In der deutschen Öffentlichkeit stießen die Verhandlungen auf große Resonanz, bei den Linken, die den völkerrechtswidrigen Kunstraub als logische Folge der nationalsozialistischen Verbrechen interpretierten, sogar auf erhebliche Ablehnung. Selbst innerhalb der Bundesregierung war man in der Bewertung der Verhandlungen zwiegespalten, was sich wegen mangelnder Unterstützung der handelnden Personen oft kontraproduktiv auswirkte. Das föderale Gerüst des „Kulturstaates“ Deutschland tat ein übriges, nach außen widersprüchliche Wahrnehmungen der deutschen Position zu ventilieren.

Es darf mit Recht vermutet werden, daß die unentschlossene Haltung der handelnden Personen besonders in Rußland und in Polen einer zügigen Rückführung von Beutekunst abträglich waren. In Rußland setzten sich schließlich in einem restaurativen Sinne nationalkommunistische Einflüsse durch, die die Kriegsbeute aus Deutschland sogar per Gesetz verstaatlichen ließen – unter dem Applaus der althergebrachten Museumsleute aus den Zeiten Stalins. Selbst in der Ukraine folgte man dem russischen Beispiel, obwohl diese zuvor ein deutsches Eigentumsrecht am eigenen Beutekunstbesitz eingeräumt hatte.

Als Rußland gegen Völkerrecht und Verträge den riesigen Besitz an deutscher Beutekunst verstaatlicht hatte, war die Enttäuschung bei der Verhandlungsdelegation groß. Sie wuchs, als sogar die erbetenen Rückgaben aufgrund von gesetzlichen Ausnahmetatbeständen verabredungswidrig nicht eingehalten, ja ignoriert wurden. Am Ende wendete sich die Erwartungshaltung ins Gegenteil, auch wenn osteuropäische Vertreter von Staat und Kirche, aus Kunst und Wissenschaft offen ihre Sympathie für das deutsche Rückführungsbegehren zeigten.

Die deutsch-russischen Verhandlungen über die Beutekunst scheiterten nicht am Desinteresse der damaligen Kanzler Kohl und Schröder, sondern am mangelnden Durchsetzungswillen der Bundesregierung und an fehlender Unterstützung der deutschen Öffentlichkeit. Das umstrittene Thema blieb bei den kommenden deutsch-russischen Gipfeltreffen zwar präsent, aber immer ohne Nachdruck. Bei der Aufnahme Polens in die EU zum Beispiel verpaßten die Deutschen als größter Nettozahler die Gelegenheit, Völkerrechtstreue und Entgegenkommen von den neuen Nettoempfängern einzufordern. Dazu war die Bundesregierung als oberste Hüterin des kulturellen Erbes Deutschlands ihren Bürgern gegenüber verpflichtet. Diese Verpflichtung hat sie bis heute nicht erfüllt.

 

Dr. Herbert Güttler, Jahrgang 1938, Jurist, war Referent im Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen, Referatsleiter im Bundesinnenministerium und zuletzt beim Kulturstaatsminister Naumann zuständig für die Verhandlungen über die Beutekunst.

Herbert Güttler: Beutekunst? Ein kritischer Blick auf deutsche Kulturpolitik. Bouvier Verlag, Bonn 2010, gebunden, 360 Seiten, 36 Euro. Ein Insiderbericht über die stockende Rückgabe der nach dem Zweiten Weltkrieg geraubten Kulturgüter.

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