© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/12 06. Juli 2012

In den Fängen von Kriminellen
Vor sechzig Jahren wurde der Jurist Walter Linse in West-Berlin von Häschern des SED-Regimes entführt und später in Moskau ermordet
Matthias Bath

Zwischen der Gründung der DDR im Oktober 1949 und dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 wurden mindestens 262 Menschen von DDR-Agenten aus dem Westteil Berlins entfuhrt. Die wohl spektakulärste dieser Menschenraubaktionen ereignete sich vor sechzig Jahren, am 8. Juli 1952.

Am Morgen dieses Tages wurde der Abteilungsleiter im „Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen“ (UFJ), Walter Linse, auf dem Weg zur Arbeit in der Lichterfelder Gerichtsstraße von drei Männern niedergeschlagen und in ein bereitstehendes, als Taxi getarntes Auto gezerrt, das mit ihm davonraste. Obwohl Augenzeugen und ein zufällig vorbeikommender West-Berliner Funkstreifenwagen unverzüglich die Verfolgung der Entführer aufnahmen, gelang es dem Entführerfahrzeug in Lichterfelde Süd die Stadtgrenze zu erreichen und in die DDR zu entkommen.

Der 1903 geborene Walter Linse stammte aus Chemnitz. Hier war er zunächst ab 1933 als Rechtsanwalt tätig gewesen. 1938 wurde er Referent bei der Industrie- und Handelskammer Chemnitz, wo er an der Arisierung jüdischer Geschäfte und Betriebe mitwirkte. Seit 1940 gehörte er auch der NSDAP an. Linse war hier aber wohl eher ein unauffälliger Mitläufer, denn 1945 erinnerte sich kaum jemand an ihn als Nationalsozialisten. Stattdessen rückte er 1946 als Nachfolger seiner NS-belasteten Vorgänger zum Geschäftsführer der IHK-Chemnitz auf und leitete so 1946/47 auch die Entnazifizierung der Steuer- und Wirtschaftsprüfer in Chemnitz. Schließlich kam es aber doch zu Konflikten von Linse mit der SED, die ihn im Sommer 1949 zur Flucht nach West-Berlin veranlaßten.

Hier kam er Ende 1950 in Kontakt zum UFJ, in dessen Dienste er im Januar 1951 trat. Der UFJ war eine Organisation überwiegend aus der DDR geflüchteter Juristen, die vom Westen die Rechtsentwicklung in ihrer alten Heimat beobachteten und publik machten. Dabei war ihr Vorgehen im Grunde naiv: Man klagte eine Diktatur an, sich nicht an das geltende Recht zu halten. Doch gerade diese Vorgehensweise erreichte höchste Wirkung, weil sie immer wieder erfolgreich auf den Unterschied zwischen Norm und Wirklichkeit hinzuweisen vermochte, den die DDR doch gerade stets zu leugnen suchte. Daß der UFJ angesichts dessen aus Sicht der DDR als feindliche Spionageorganisation anzusehen war, erscheint nicht weiter verwunderlich.

So geriet auch Walter Linse ab Herbst 1951 in das Visier des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und seiner sowjetischen Berater. Im Frühjahr 1952 wurde seine Entführung beschlossen. Zur Durchführung der Tat heuerte das MfS eine Gruppe Berliner Krimineller an. Die Motive der für die Entführung Angeworbenen beruhten weniger auf politischer Überzeugung als auf dem Versprechen von Straffreiheit für von ihnen begangene Taten und auf finanzielle Belohnung und Unterstützung nach der Entführung Linses. Die Entführer übergaben Linse am 8. Juli 1952 in Teltow-Seehof an Mitarbeiter des MfS, die ihn umgehend in das unterirdische zentrale Untersuchungsgefangnis des MfS in Berlin-Hohenschönhausen verbrachten. Hier wurde Linse über Monate hinweg stets im Beisein sowjetischer Offiziere brutalsten Verhören unterzogen. Schließlich wurde er am 3. Dezember 1952 endgültig den Sowjets übergeben und in das MGB-Untersuchungsgefängnis in Berlin-Karlshorst verlegt. Im September 1953 wurde er hier von einem sowjetischen Militärgericht zum Tode verurteilt. Im Oktober 1953 in die Sowjetunion abtransportiert, wurde Linse am 15. Dezember 1953 im Moskauer Butyrka-Gefängnis erschossen. Sein Leichnam wurde eingeäschert und vermutlich auf dem Friedhof des Moskauer Donskoj-Klosters beigesetzt. Es war die letzte Hinrichtung eines Deutschen in der Sowjetunion aufgrund von Entscheidungen sowjetischer Militärtribunale in der DDR.

Die Entführung Walter Linses löste in der westlichen Öffentlichkeit außerordentliche Empörung und heftige Reaktionen aus. Am Abend des 10. Juli 1952 versammelten sich 25.000 Menschen vor dem Rathaus Schöneberg zu einer Protestkundgebung. Kommunistische Störer der Kundgebung wurden von der Menge verprügelt. Der Regierende Bürgermeister von Berlin Ernst Reuter faßte die Empörung der Berliner in Worte, forderte die umgehende Freilassung Linses und rief die Welt um Hilfe für Linse an. Die Westalliierten protestierten bei der Sowjetunion. Der Bundestag trat zu einer Sondersitzung zusammen. Europarat und Uno befaßten sich mit der Entführung.

Die kommunistischen Humanisten beim MfS zogen daraus die für sie folgerichtige Konsequenz, künftige Entführungen nicht mehr brutal auf offener Straße im Blickpunkt möglicher Öffentlichkeit durchzuführen. Künftig sollten Entführungsopfer erst durch die Verabreichung von Betaubungsmitteln oder Giften in einen hilflosen Zustand versetzt und dann ohne Aufsehen in den Ostsektor verschleppt werden. Spektakuläre Fälle derartiger Entführungen in den folgenden Jahren waren etwa die Verschleppung des Publizisten Karl Wilhelm Fricke am 1. April 1955, des früheren Volkspolizeigenerals Robert Bialek am 4. Februar 1956 und noch wenige Wochen vor dem Mauerbau die Entführung des früheren Sekretärs der SED-Bezirksleitung Berlin und nunmehrigen Redakteurs der Zeitschrift der bundesdeutschen IG Metall Heinz Brandt am 16. Juni 1961.

Bereits 1953 gelang in West-Berlin die weitgehende Aufklärung der Linse-Entführung vom 8. Juli 1952. Am 9. März 1953 wurde hier der an der Entführung beteiligte Kurt Knobloch bei einem Einbruchsversuch von der Polizei festgenommen und legte nachfolgend ein umfassendes Geständnis ab. Am 4. Juli 1954 wurde Knobloch daraufhin vom Landgericht Berlin wegen seiner Beteiligung an der Entführung zu einer Zuchthausstrafe von zehn Jahren verurteilt. Das änderte jedoch nichts daran, daß Linse weiterhin verschwunden blieb. Erst nach 1990 konnte sein weiteres Schicksal aufgeklärt werden. Am 8. Mai 1996 wurde Walter Linse von der russischen Generalstaatsanwaltschaft in Moskau postum rehabilitiert.

Foto: Walter Linse 1951 als Mitglied im Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen: Künftige Entführungen nicht mehr brutal auf offener Straße

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