© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/12 06. Juli 2012

Warum Freiheiten nicht ohne Preis zu haben sind
Der Münchner Historiker Andreas Wirsching beleuchtet die letzten 25 Jahre europäischer Geschichte im Zeitraffer
Felix Dirsch

Eine Untersuchung über die unmittelbare Gegenwart zu verfassen, ist einerseits reizvoll, da noch keine historiographischen Bewertungsmaßstäbe in toto vorliegen; andererseits offenbart ein solches Unternehmen nicht wenige Schwierigkeiten. Eine unheimlich große Zahl an aktuellen Ereignissen, Strömungen und Tendenzen, die sich häufig überlagern, ist in einer adäquaten Synthese zu bündeln.

Der Historiker Andreas Wirsching ist vor den Risiken nicht zurückgeschreckt. Als Zäsur wählt er naheliegenderweise den Einschnitt von 1989/90. Der Verfasser, der kürzlich Horst Möller als Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte abgelöst hat, gliedert seine Abhandlung in fünf Kapitel: Europa und seine demokratische Revolution; das östliche Europa in den 1990er Jahren; das gemeinsame Europa als politisches Projekt; die Herausforderung der Globalisierung; kulturelle Selbstbesinnung und europäische „Identität“. In der Schlußpassage folgen Überlegungen zu „Krise und Konvergenz“.

Wirsching wählt als roten Faden seiner Darstellung der letzten 25 Jahre folgende Deutung: Er sieht die augenblickliche Situation in Europa als Preis jener Freiheiten, die sich unmittelbar nach dem Mauerfall und den Umbrüchen in Osteuropa bemerkbar machen, jedoch nur kurzzeitig für Euphorie sorgen. Millionen Menschen in den Staaten des ehemaligen Ostblocks wird bald bewußt, daß politische Freiheiten durchaus wirtschaftliche Marginalisierung nicht ausschließen. Oft ist dieser Zusammenhang sogar unvermeidlich, weil die ökonomischen Strukturen kaum auf den Wettbewerb vorbereitet sind und nur längerfristig als konkurrenzfähig gelten können. Nicht nur die „alten“ Marktwirtschaften der früheren EG-Staaten können ihre wirtschaftliche Überlegenheit nicht verbergen; zudem schafft auch die Globalisierung starken Druck und befördert marktwirtschaftliche Schocktherapien mit deutlichen Verwerfungen im Gefolge. Im innerstaatlichen Bereich schaffen Freizügigkeitsregelungen und Individualisierung erhebliche Risiken bezüglich des Zusammenlebens. Der zunehmende Multikulturalismus ist nur eine der daraus resultierenden Schwierigkeiten.

Auch die Wirtschafts- und Finanzkrise läßt sich vor dem Hintergrund dieses „erkenntnisleitenden Interesses“ gut erfassen, geht sie doch ursächlich nicht zuletzt auf Deregulierungsmaßnahmen aus der angelsächsischen Welt seit den frühen 1980er Jahren zurück. Hinzu kommt die Integration früherer kommunistischer Länder in die Welt des „digitalen Kapitalismus“ sowie die wirtschaftspolitische Gesamtausrichtung der EU, die man primär als Freihandelssystem betrachten kann, ungeachtet unterschiedlicher sozialpolitischer Ausrichtungen der Mitgliedstaaten.

Wirsching gelingt es, die Stoffmassen in politik-, kultur-, wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Hinsicht anschaulich zu präsentieren. Er verbleibt im verbindlichen Radius der Forschung. Dem Leser entgeht freilich nicht, daß der Autor von den Pfaden der politischen Korrektheit nicht abweicht. So sieht er beispielsweise nicht in den gegen Ungarn gerichteten Kolonialisierungsversuchen der Brüsseler Eurokraten Kritikwürdiges, sondern erkennt im Handeln der Regierung Orban sogar „konstitutionelle Rückschritte“. Selbstredend wird der Rechtspopulismus getadelt, sein weitaus einflußreicheres linkes Pendant – und das nicht nur in Griechenland – hingegen ausgeblendet. Einwände gegen untragbare Zustände, etwa gegen verbreitete Mentalitäten in Griechenland, schürten „antieuropäische Ressentiments“.

Natürlich ist Wirsching kaum in der Lage, die verschiedenen Defizite der EU, vor allem in den Bereichen demokratische Legitimation sowie Rechts- und Sozialstaatlichkeit, zu benennen. In einem Punkt ist ihm allerdings zuzustimmen. Er vermutet, daß Europas Zentrale aus der Krise gestärkt hervorgehen und der Weg des „immer engeren Europas“ sich fortsetzen wird. Das ist wahrscheinlich. Es fragt sich aber, welche Folgen aus dem Sieg der zentripetalen Kräfte zu vergegenwärtigen sind. Es dauert wohl nicht mehr lange, da wird der Institutsdirektor sämtliche Mittel seiner Einrichtung direkt aus Brüssel beziehen. Man darf hoffen, daß er sie nicht in gewünschter Höhe erhält; nur dann wird er diverse Fehleinschätzungen als solche erkennen.

Andreas Wirsching: Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit. Verlag C.H. Beck, München 2012, gebunden, 487 Seiten, 26,95 Euro

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