© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/12 06. Juli 2012

Rechtlich vogelfrei
Tierversuche in der Diskussion: Neue Gesetze und alte Konflikte / Wird Laborverwendung eingeschränkt?
Christoph Keller

Das deutsche Tierschutzgesetz definiert im Paragraphen 1 Tiere als „Mitgeschöpfe“. Das ist jedoch kaum mehr als eine bloß rhetorische Geste des Respekts. Denn, so klagt Dieter Birnbacher, emeritierter Ökophilosoph und Bioethiker an der Uni Düsseldorf, Mitglied der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer, tatsächlich sind die meisten Tiere „rechtlich vogelfrei“ (Information Philosophie, 2/2012).

Ein Status mit oft tödlichen Konsequenzen in den Laboren, die Tiere für medizinische Forschung „verbraucht“. Solchen Tierversuchen stehen heute zwar höhere Hürden als im 20. Jahrhundert entgegen. Trotzdem, so argumentiert Birnbach, seien die gesetzlichen Maschen noch viel zu weit geknüpft. Die Tierschutzgesetze in Europa und den USA träfen nur „grobe Unterscheidungen“, die für die Tierversuchspraxis eher von bedingter Relevanz seien.

In Deutschland ziehe der Gesetzgeber sogar nur zwei Grenzen. Zum einen die zwischen Wirbeltieren und Wirbellosen. Für Versuche mit Wirbeltieren bedarf es einer behördlichen Genehmigung. Versuche mit hochentwickelten Weichtieren wie Tintenfischen, die sinnesphysiologisch den Wirbeltieren nahekommen, unterliegen lediglich einer Anzeigepflicht. Unterhalb dieser besonderen Wirbellosen, dies die zweite gesetzliche Differenzierung, stehen alle anderen Tiere zur Disposition der Forschung.

Diese Selektionskriterien orientieren sich an der Annahme einer abgestuften Leidensfähigkeit von Lebewesen auf der Skala zwischen Menschenaffe und Stubenfliege. Nach Maßgabe neurophysiologischer Befunde gelten Wirbellose als nicht leidensfähig und damit letztlich eben nicht als schutzwürdige „Mitgeschöpfe“. Innerhalb der Gruppe der anerkannt leidensfähigen Tiere fehlen jedoch weitere Abstufungen, vor allem vermißt Birnbacher eine Sonderregelung für Menschenaffen oder Meeressäuger.

Abhilfe erwartet der Bioethiker von einer EU-Novellierung der Tierversuchsrichtlinien, die in diesem Jahr in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Neue Differenzierungen würden damit für Tiere getroffen, die dem Artenschutz unterliegen – ihre Laborverwendung wird weiter eingeschränkt. Ferner werde die wissenschaftlich motivierte Vernutzung von Menschenaffen an noch enger gefaßte Bedingungen gebunden. Und schließlich erhalten nichtmenschliche Primaten eine Sonderstellung.

Trotzdem glaubt Birnbacher, auf dem Wunschzettel der Tierschützer sei vieles unerfüllt. Gerade die in der Pharmaindustrie besonders beliebten Makaken oder Rhesusaffen dürfen weiter gequält werden. Gestatte doch die Sonderregelung für nichtmenschliche Primaten genehmigungsfähige Versuche, „sofern sie der Grundlagenforschung dienen oder durchgeführt werden im Zusammenhang mit einem lebensbedrohlichen oder zur Entkräftung führenden Zustand, der Menschen gefährdet“.

Der klassische Gegensatz zwischen der „menschliche Interessen“ reklamierenden Forschung und dem Tierschutz ist damit nicht aufgehoben. Zumal der Bedarf der Neurowissenschaften an „Affenmodellen“ heute steigt, da die Ähnlichkeit der Organismen von Affen und Menschen die größten Erkenntnischancen versprechen, um endlich die langersehnten „Durchbrüche“ in der Therapie von Alzheimer und Parkinson erzielen zu können.

Birnbacher weist keinen Ausweg aus diesem Dilemma und kann daher nur die Beachtung von zwei tierethischen Minimalforderungen anmahnen, die allerdings wenig neu und originell sind: Erstens „peinliche“ Prüfung des zu erwartenden wissenschaftlichen und klinischen Ertrags, bevor Tiere dem Risiko einer „ungerechtfertigten Leidenszufügung“ ausgesetzt werden, und zweitens Prüfung der Frage, ob Untersuchungen mit geringerem Belastungsrisiko möglich sind, eventuell im Humanexperiment, da dies das Einverständnis menschlicher Probanden voraussetze und daher ethisch „grundsätzlich“ vorzugswürdig sei.

Foto: Rhesusaffen dürfen weiter gequält werden: Klassischer Konflikt zwischen Forschung und Tierschutz

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