© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/12 20. Juli / 27. Juli 2012

Entgiften, entrümpeln, entzaubern
Richard Wagner: Kommenden Mittwoch beginnen die Bayreuther Festspiele / Jubiläumsjahr 2013
Markus Brandstetter

Der Komponist Richard Wagner wurde 1813 geboren und ist 1883 gestorben. 2013 wird also das Super-Wagner-Jahr schlechthin. Um das gebührend zu feiern, hat die Wagnerstadt Bayreuth ein kunterbuntes Programm angekündigt, das einen etwas angestrengten Weg zwischen Ernst und Klamauk sucht. Im Juli 2013 werden dann die Bayreuther Festspiele eine Neuinszenierung des „Rings des Nibelungen“ von Frank Castorf erleben, vor der sich manche Operngänger bereits heute fürchten. Es tut sich also etwas in der Wagnerstadt, die Frage ist nur – hat der ganze Betrieb noch viel mit Wagner zu tun?

Die Frage ist berechtigt, weil zum Beispiel in Wagners Oper „Lohengrin“ der Titelheld als „Ritter“ bezeichnet wird. In Hans Neuenfels’ Bayreuther Neuinszenierung von 2010 jedoch mutiert das Volk zu Ratten, Grafen und Edle zu Laboranten, während Lohengrin selbst als Sanierungsmanager auftritt, der den verschlampten Rattenkonzern auf Vordermann bringen soll. Der Schwan war selbstverständlich schwarz und hatte viel Ähnlichkeit mit Ruedi Gigers Alien aus dem gleichnamigen Horrorfilm.

Fünf Jahre zuvor hatte Christoph Schlingensief seine Inszenierung von „Parsifal“ nicht um Ratten gestrickt, sondern rund um den gemeinen Feldhasen, einen angeblich urdeutschen Zentralmythos, der christliche Erlösungssehnsucht verkörpert – oder das genaue Gegenteil davon, so genau wußte das keiner. Das Bühnenbild versammelte den gesamten Sondermüll, der sich auf den Wertstoffhöfen der abendländischen Ideologie angesammelt hatte, damit der nun in Bayreuth seine letzte Ruhestätte finden konnte.

Im letzten Jahr stand wieder Abfall im Zentrum einer Inszenierung, dieses Mal ging es entfernt um Tannhäuser und die Wartburg, die als hellrote Biogasanlage vorgestellt wurde, eine Regieanweisung, die Wagner in der Originalpartitur offenbar vergessen hatte. Chor und Sänger traten hauptsächlich in Unterhosen, Fleckerlteppichen und Sadomaso-Stiefeln auf, Ausstattungsdetails, die Wagner ebenfalls übersehen hatte.

Man kann diese Inszenierungen nun mögen oder verdammen, sie zeigen auf jeden Fall eines: Deutschland und die Welt setzen sich mit Wagner so intensiv auseinander wie mit keinem anderen Opernkomponisten. Natürlich wird auch mit Mozart und Verdi Schindluder getrieben, aber nie in dem Ausmaß wie mit Wagner. Fast 130 Jahre nach seinem Tod muß Wagner jedes Jahr aufs neue niedergerungen werden, muß bewiesen werden, daß dieser kleine Sachse, der keinen Meter siebzig maß, ein ganz gefährlicher Kerl war, der bis heute verstört, entnervt und provoziert.

Der Grund für diese Haßliebe liegt darin, daß Wagner wahres Genie und veritables Scheusal zugleich war. Beethoven hat getrunken und seinen Neffen Karl geschlagen, Mozart die skatologischen Bäsle-Briefe geschrieben, Verdi war unfreundlich zum Hauspersonal. Aber das sind Peanuts im Vergleich mit Wagner. Keiner von denen war ein flagranter Antisemit, ein Manipulator auf höchster politischer Ebene, ein Ehebrecher, Lügner, Betrüger, Schwindler und Bankrotteur. Wagners zivil- und strafrechtliche Laufbahn stört moderne Regisseure natürlich gar nicht, aber beim Antisemitismus und seinem Nationalismus, da haben sie ihn schwer am Wickel. Und richtig: Wagner war ein schlimmer Antisemit. Mendelssohn und Meyerbeer haben ihn, als er jung, arm und unbekannt war, mit Geld und Zuspruch gefördert, und von Meyerbeers Monsteropern hat er sich in „Rienzi“ und dem „Fliegenden Holländer“ mehr abgeschaut, als ihm später lieb war. Gedankt hat Wagner es ihnen mit Schmähungen, als beide Komponisten längst tot waren.

Seine größten Sünden aber beging Wagner im Dritten Reich. Da war er zwar schon fünfzig Jahre tot, aber in der Villa Wahnfried gingen NS-Größen ein und aus, posierten mit des Meisters Nachwuchs und gebärdeten sich als Hüter des Erbes. Zu allem Überfluß war er Hitlers Lieblingskomponist. Das alles verursacht modernen Regisseuren Dauergrausen. Deshalb kennen sie nur einen Marschbefehl: Entrümpeln, entzaubern, entgeistern, entgiften. Wer mit einer kulturell dermaßen erstklassigen Mission betraut ist, darf selber ruhig zweitklassig sein. Deshalb kann Siegfried im Taucheranzug, Wotan als Zuhälter und Isolde als Stripperin auftreten. Entmythologisierung ist alles und Kunst gar nichts.

Und dabei würde Wagner einem wirklich guten Regisseur viel zum Nachdenken und Gestalten geben. Denn Richard Wagner war nicht nur ein Schurke und ein großer Komponist (das geben alle zu, sogar die Regisseure), sondern ein Schöpfer gewaltiger Mythen. Er hat als einer der ersten gespürt, daß Aufklärung und industrielle Revolution den Menschen zwar Menschenrechte, Demokratie und technische Produktivität gegeben, aber dafür etwas Zentrales genommen haben: gute Götter und die Erklärung der Welt. Mythen erzählen den Anfang und das Ende, Mythen trösten und beruhigen, beheimaten und behausen uns in einer fremden Welt.

Rousseau und die Dampfmaschine, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und der automatische Webstuhl haben all das hinweggefegt und den Sinn der Welt gleich mit. Wagner hat das wie kein anderer erkannt und daraufhin im Alleingang versucht, der Welt einen Mythos zurückzugeben. Dazu hat er germanische und nordische Heldensagen, das Nibelungenlied und christliche Mysterien in einen Topf geworfen und kräftig umgerührt.

Aus diesem Hexenkessel ist Wagner dann mit einer gigantischen Wort-Musik-Saga wieder aufgetaucht, die die Menschen seit jeher fasziniert. Von Wagner führt eine direkt Linie zu den Mythenschöpfern des 20. Jahrhunderts, zu John Ford und Sergio Leone, zu Star Wars und dem Herrn der Ringe, zu Trivialmythen wie Super- und Spiderman.

Und genau da könnte ein Regisseur ansetzen und für uns Wagner ins 21. Jahrhundert holen, ohne ihn auf dem Prokrustesbett einer scheinheiligen Entnazifizierung alljährlich hinzurichten. Und vielleicht wäre es dem hochsubventionerten Bayreuth ja einmal möglich, für unsere Steuergelder ein wirkliches Talent, vielleicht sogar ein Genie, auf jeden Fall aber eine Größe, die Wagners würdig ist, zu engagieren anstatt der miserablen Mediokritäten, die sich auf dem Grünen Hügel jahraus, jahrein die Klinke in die Hand geben.

Foto: „Lohengrin“, 3. Akt, Bayreuther Festspiele 2011: Regie-Provokateur Hans Neuenfels setzte das Volk als Ratten in Szene

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